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                                                                                                                              Lhasa, den 30sten Juli 2007 

                                             

Lieber Leser, geduldiges Jahrbuch!
 
15 Monate habe ich nichts mehr berichtet, das Fass der Erlebnisse ist laengst uebergelaufen, Nennenswertes versickerte im Sand. Hier ein rettender Versuch.
 
Aus geplanten zwei Monaten des Deutschlandbesuches werden schliesslich sogar drei, bis nach Spanien geht die Tour, wohin ich Fraeulein Bolivia bringe. Zahlreichen Kindern werde ich vorgestellt, eine Taufe steht auf dem Programm, selbst eine Totenmesse bleibt der Familie nicht erspart. Aufatmend, wie erleichert finde ich mich endlich zurueck bei meiner eigentlichen Reise.

Viel Aufschlussreiches lernte ich bei meinem Besuch. Wie konnte ich mir nur vormachen, nur ich haette mich veraendert, wie konnten sich die Freunde nur vormachen, nur ich haette mich veraendert! Einige wurden zu Eltern, daran erkenne ich erschrocken, wie die Zeit, an niemanden vorbeigeht.
Bereits im Vorhinein meint sich der Besuchte oft schon entschuldigen zu muessen, es waere ja nicht viel passiert, dabei geschehen selbst im Alltag des Sesshaften bemerkenswerte Dinge. Doch laesst man soviel an sich vorueberziehen, dass man sich am Abend kaum noch daran erinnert. Natuerlich erscheinen dann alle Tage gleich bis hin zur Eintoenigkeit. Wofuer hat man denn seine Sinne beisammen, wohl doch, um sich einen Sinn aus den Eindruecken und Erlebnissen zu reimen. Ein Tagebuch zu fuehren, ist der Anfang der Spiritualitaet. Ich will doch auch keine grossen Geschichten hoeren, sondern Vertrautes, etwas was mich heimisch macht.
An alten Erinnerungen ruehrt man noch nicht, frueher oder spaeter fragt man sich wahrscheinlich, ob die getrennt verbrachte Zeit Schuld daran sei,  sich vielleicht etwas entfremdet zu haben. Vorbeugend haette man sich in der Zwischenzeit zum Beispiel auch mal schreiben koennen. Aber es bleibt ja bei mir, mich wieder anzunaehern. Es stimmt schon: Ich haette schliesslich nicht wegfahren brauchen. Ich begreife, wieviel Beieinander und Miteinander gute, erbauliche Gespraeche benoetigen. Immer fragwuerdiger erscheint mir meine Idee, jeden besuchen zu wollen.

Am naechsten Tag verschwinde ich dann meistens. Auch in Deutschland schlafe ich nur in fremden Betten, und so langsam wird mir klar, ich sei nur noch Gast, wohin ich auch gehe. Viel spaeter kommt es endlich ueber mich, man mache so viel aus Gefaelligkeit, wolle es jedem recht machen, in dem bis dahin nicht erkanntem Wahn, anderen zu gefallen, eine wahre Gefallsucht sei so etwas und das muesse doch endlich mal ein Ende haben.

Dieses ungewohnte Leben ermuedet mich, ein anderes Muedesein, als nach einem Tag Radfahren, wenn ich brav wie ein Kind durchschlafen kann. So sehen auch viele fruehere Weggefaehrten in der Mitte ihres Lebens abgespannt aus.  Und mit einmal verstehe ich sie, wenn sie sich ein wenig laben wollen, an diesem Traum von meiner Weltreise, moegen die Vorstellungen auch nicht mit meinen Erfahrungen uebereinstimmen. Es sprengt sowieso alle Vorstellung und kann nur in Echtzeit nachvollzogen werden.

Die Systemmacher sind ja in den hochzivilisierten Laendern erfolgreich bemueht, den kleinen Mann taeglich aufs Neue „fertig“ zu machen, dass man sodann am Ende des Tages ins Bett faellt, ohne auch nur zu wissen, warum der ganze Aufwand. Das alte Wort vom „Tagewerk“, wer kann schon darauf zurueckblicken! Die Welt scheint immer komplizierter zu werden, aber genauer betrachtet sind es Irrwege im Labyrinth erklaerter Wichtigkeiten, den Menschen beschaeftigt zu halten.
Man sei „ein kleines aber wichtiges Rad im Werk“ wird  einem geschmeichelt, „Gib (her) deine Kraft!“, bis man sich eines Tages durch einen Chip ersetzt sieht, „die weltweit kritische Wirtschaftslage bedinge diese Einsparungen“. Oder man „schafft“ es tatsaechlich  erst im verhoehnend hohem Alter von 67 in den Ruhestand geschickt zu werden, dann hat man vielleicht noch zehn Jahre, um sich Gedanken darueber zu erlauben, wofuer das Ganze war, woher man komme, wohin man gehe. Was stellt man mit dieser Zeit anderes an, als an seinen sauer verdienten Fruechten zu naschen, ohne grossen Hunger, denn je aelter und gebrechlicher man wird, desdo weniger schmeckt einem das Leben. Soll man sich mit Luxus umgeben, so der Wirtschaft treu bis zum Ableben nuetzlich sein? Gevatter Tod macht alle gleich – wohl dem, der sich einen hoffnungsvollen Schatz angesammelt hat!

Ein Verzicht auf die technischen Errungenschaften der Moderne, diesen vermeintlichen Lebenserleichterungen, wuerde in seiner Konsequenz bedeuten, ein Leben als Eigenversorger anzustreben, als Fischer etwa oder als Bauer. Jemand, der seinen Garten bearbeitet, mag es nachvollziehen, wie man dabei ein Gefuehl der Zufriedenheit erlangt, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. „Unter Schmerzen sollst du gebaeren, im Schweisse deines Angesichts, sollst du dein Brot verdienen.“, sagte der Gott der ersten Menschen beim Auswurf aus dem Paradies. Man frage nur eine Mutter nach dem Erlebnis der Geburt, sie wird es so wenig beschreiben koennen, wie die stille Ahnung, die ein Bauer bei seiner Arbeit erfaehrt. Dieser goettliche Satz verstehe sich darum nicht als Strafe, sondern als Weisung, die Ureinwohner machen es uns vor - das Paradies hat noch keiner im Diesseits wierdergefunden.
Die Landflucht ist somit ein Phaenomen der Konsumgesellschaft.
 
Ich frage mich nach dieser gegenseitigen Entzauberung ernsthaft, ob ich jemals wieder mehr, als nur ein Besucher in Deutschland, als Vertreter der hochtechnisierten Welt, sein werde. Vieles unterwegs so inbruenstig Erkannte, sehe ich in diesem beschallten, durchorganisierten Leben, als Woerter ohne Inhalt und Wert zusammenschrumpfen, dort, wo alles einer zeitlichen Begrenzung zum Opfer faellt und wo man der Illusion des abrufbereiten Wissens durch das Internet, durch Nachrichten - schlicht: einer Reizuebeflutung unterliegt. Doch ob man ein Regal voller Buecher „hat“, bei Bedarf auf das WorldWideWeb zurueckgreifen kann, wobei doch niemand genau bestimmen kann, woher diese Informationen kommen, ODER ueber Wissen verfuegt, das in Fleisch und Blut uebergegangen ist, das einen bewegt und traegt, das einen gemacht hat, mit dem man getrost auch Sterben kann, ist ein grosser Unterschied.

Nichts fuer Ungut zu meinem Besuch aber es bleibt dabei: Manche dieser Einsichten haette ich mir schlicht ersparen, andere noch zum treffenderen Zeitpunkt meiner eigentlichen Beendigung der Reise aufsparen koennen, anstatt mich wieder einmal voellig aus dem Rhythmus herauszureisen. Vor allem waere ich bereiter dafuer gewesen. „Reisende soll man nicht aufhalten“, ist wohl hier der passende Spruch. Wird man jemals klug? – Wohl nur verstaendig.
 

Meine Weiterreise fuehrte mich durchs Trendland Nummer eins, den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Name vor dem mancher schon allein erschauert, aber man vergesse den Respekt, er besteht naemlich nur einseitig. Die westlich orientierte Welt ist immer ziemlich nachsichtig mit diesem Volk, seinen regierenden Maennern und Dunkelmaennern, da sie als Handelspartner und groesste Konsumenten in diesem sich immer mehr in Frage stellenden Gesellschaftssystems des Kapitalismus nicht zu vergraulen sind.  

Der Leser moege mir im Vorfeld meine Verallgemeinerungen nachsehen, es erleichtert mir die Ausfuehrungen, anstatt staendig an den Einen unter Zehnen zu erinnern, der mittlerweile am Umdenken ist.
Als Reiselektuere durchs Land empfiele sich “Der abenteuerliche Simplizissimus”, ich hatte es nicht dabei, aber fuehlte oft mit dem Helden.

Wie es die Art der paranoiden Amerikaner ist, meidet man mich meistens.  Jemand alleine, noch dazu auf einem schwer bepackten Fahrrad, der muss einfach suspekt erscheinen.  Er koennte ja gefaehrlich sein oder auch verrueckt oder beides. (In ueberregelten Laendern muss man sich ja seltsamerweise immer fuer alles verantworten. Individuelle Freiheit wird unterbunden, weil kein oeffentlicher Nutzen davon zu erwarten ist.) 'Irgendwas ist mit ihm wohl nicht in Ordnung.’ ‚Kann er sich kein Auto leisten?' - Alles faengt im Land ja mit "A" wie Auto an. Fahrraeder faehrt man dort auf dem Autogepaecktraeger spazieren und fuehrt sie aus, beziehungsweise vor, wie einen Rassehund beim Gassi-Gehen. Die „drivers licence" entspricht dem Personalausweis.
Natuerlich bedarf das ganz anderer Logistik, wenn eben jeder sozusagen ein Auto als Identitaet mit sich fuehrt. So erklaeren sich breitere Strassen, riesige Parkplaetze - alles autogerecht geplant.  Man trifft sich in den Gassen der Supermaerkte oder beim Einparken. Freitags wird der Wochenscheck ausgestellt, da sind die Bars voll, samstags tritt man dann aber zur Vernunft zurueck und schliesst sich wieder zu Hause ein - im Zwiegespraech mit Fernseher, Kochtopf oder unsichtbaren Menschen im Internet. Man muss doch die vielen Rechnungen bezahlen. Dafuer arbeiten sie auch oft noch in einem Nebenjob. Die Haeuser und Grundstuecke, Autos, kurz: das, was sich als „American Way Of Life“ beschreibt – mit so etwas wie einer dahinter versteckten Philosophie hat das alles nichts zu tun, es bezieht sich ausschliesslich  auf Gueter – gehoeren doch noch auf lange Jahre den Banken!
Bis diese Glitzerwelt im Fernsehen auch beim letzten Bauern irgendwo auf Erden erklaert und entzaubert ist, dauert es eines Menschen Ewigkeit, darin besteht das Dilemma.

Mit durchschnittlich elf Tagen Urlaub pro Jahr kommt er auch nicht auf die Idee, auf  Reisen, womoeglich noch ausserlandes zu gehen. Dort sei es ja voller Terroristen, und Angst ist eine grossartige Erfindung, den Konsum anzukurbeln, das bedeutet: mehr Nachfrage fuer Versicherungen, gesicherter Absatz von Ueberwachungsanlagen und Waffen, Sicherheitsdenken bei saemtlichen Einkaeufen, vom Schnuller und “nur das beste fuer’s Kind” bis zum narrensicheren ferngesteuerten Familienauto; bei „Wal-Mart“ soll man tatsaechlich sogar komplette Bunkersysteme kaufen koennen. Wer Angst hat laesst auch alles mit sich geschehen, wehrt sich nicht, laesst sich bestimmen, wird zum Opfer.

Man fruehstueckt im Auto auf dem Weg zur Arbeit, fuer viele Besorgungen muss man sich schon laengst nicht mehr aus seiner Gehhilfe bemuehen, ob Bankautomaten, Tankstellen, saemtliche Fast-Food-Ketten: Gleich in San Diego ganz neu in dieser Welt wollte ich mir ein paar Tacos von einem Drive-Inn holen, reihte mich mit dem Rad ein, weil ich es nicht unbeobachtet lassen wollte. Als ich beim Mikrofon angekommen war, verweigert mir eine Stimme die Bestellung, ich sei kein Auto, da hilft auch kein Murren, ich bin eben fremd hier und bleibe es - freiwillig!
Gesuendere Nahrung findet sich nur in den Frucht-und Gemueseabteilungen der grossen Supermaerkte. Das Problem fuer mich besteht darin, nie zu wissen, wohin mit meinem Rad. Nicht nur, dass ich es unbeobachtet lassen muesste, es koennte ja auch voller Bomben sein. So muss ich auch hier Abstriche machen und bekomme in den kleineren Junk-Food-Laeden oder in den Tankstellen eben nur Sachen, die fett und bloed machen.
      
Ein Konsumrekord reiht sich an den naechsten, erklaert den weltweit groessten Energieverbrauch.
Der Ami wird der erste Degenerierte einer neuen Menschenart sein, die das Laufen verlernt hat. Man sagt dazu: ‚sie seien ein mobiles Volk’. Schon jetzt stehen in jedem grossen Supermarkt Elektrorollstuehle bereit, womit Leute in den besten Jahren, die ihr Gewicht nicht mehr ertragen koennen, die Kilotueten Chips, Paletten an Sodagetraenken und so weiter durch die Gaenge rollend aufladen koennen, anstatt ein Jahr zu fasten. Schnaeppchen im Supermarkt sind oft, das Doppelte der Ware zum einfachen Preis zu kaufen. Aber wohin damit? Also entweder in die Kuehlverliesse zu hause oder eben gleich verdruecken. Je aermer desto korpulenter ist hier die Faustregel. Gibt es daran etwa was zu beschoenigen, warum Mitleid zeigen?  Woanders weinen sich Kinder vor Hunger in den Schlaf. In Suedost-Asien gilt ein dicker Mensch gar als ein schlechter Mensch. Muss man zweifaches Normalgewicht wirklich beim Psychater besprechen? -  Ein selbstgelobter Haufen, der keine Ahnung hat, was in der Welt passiert! Was waere er ohne die Erfindung des Rades und des Verbrennungsmotors? - Er waere schlanker! Locker achtzig Prozent sind im Land uebergewichtig. Ein trainierter Muskel schwillt nicht weiter an, deshalb sind die Typen hier nicht superstark sondern eher voller Proteine von der Dauerdiaet aus zu viel Fleisch und Sodagetraenken. Unter Muellberg muss man ja auch objektiv betrachtet den organischen Abfall, ich will es genauer sagen, den menschlichen Unrat zaehlen. Und klar scheint es eine seltsame Vorstellung, wie viel mehr davon auch hier im Laufe seines Lebens so eine amerikanische Fressmaschine hinterlaesst. - Rauchen ist schlecht, Drogen machen abhaengig, Saufen ist auch kein Ventil, aber Essen wird man wohl noch koennen! Studien belegen, dass Essen als sozialer Akt, wie es beispielsweise den Franzosen nachgesagt wird, keine uebergewichtigen Leute hervorbringt, der Durchschnittsami dagegen beweisst sich hierbei mal wieder in seiner Einsamkeit.

Mit Abstand hat das Land das weltweit dichteste Netz an Tankstellen, so verwundert es auch nicht, dass der Mann zum Praesidenten gewaehlt wird, der verspricht, die Benzinpreise niedrig zu halten. Mehr interessiert den Verbraucher nicht. Mittlerweile bin ich mir sicher, die Oelfoerdergesellschaften koennen noch lange Jahre ihr dreckiges Gold pumpen, zu gegebener Zeit laesst man mal wieder eine Nachricht durchsickern, ein grosses Erdoelfeld entdeckt zu haben, es ist auch nur Angst, die der abhaengigen Welt eingeredet wird, die steigenden Preise weiterhin zu rechtfertigen. (An dieser Stelle sei Brasilien erwaehnt, das seit Beginn des Jahres vollstaendig auf den Treibstoff Ethanol, aus Zuckerrohr gewonnen, umgestellt hat.)

Als sportlich gilt hier schon, ein Auto mit manueller Schaltung zu fahren, ein Quad in der Garage zu haben, dazu gehoert dann noch eine umfangreiche Palette an Outdoor-Ausruestung. Vierundzwanzig Stunden geoeffnete Fitness-Center – Wer geht schon nachts um zwei ins Fitness-Studio? - sind eher Treffpunkte fuer die ganz Eitlen, um schneller ein paar Sprossen auf der Karriereleiter zu erklimmen.

Los Angeles, mein Ausgangsort dieser so vielfach geruehmte Weltmetropole hat ungefaehr 40.000 Obdachlose. Mir faellt auf,  wie solches Fussvolk oft am Fluchen ist, einem Autofahrer sieht man das ja nicht gleich an. Ich stelle fest, in diesem Land flucht man so viel, wie ich's noch nie vorher erlebte. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass man so zufrieden ist. Deshalb sieht man hier auch so haeufig hundert oder mehr auf den Koerper verteilte Glueckspfunde. Es kursiert ein Spruch im weiten Ausland, alle schoenen Menschen des Landes wuerden in Hollywood arbeiten. Der Rest frisst sich eben so durchs Leben.


Zehn Tage bleibe ich in L.A., aber wirklich wohl wird mir nur bei Besuchen bei Hilde, einer Dame die es geschafft hat, trotz langer Jahre in den USA ihre deutsche Herkunft wie einen Schmuck zur Schau zu stellen.
Ich gehoere ja auch der Fussgaenger-Kaste an und schaffe es nie rechtzeitig zu ihr. Die spaerlichen Stadtbusse haben keinen exakten Fahrplan, will man dann entnervt eine Taxe heranwinken, zum Beispiel im Regen - ueberdachte Bushaltestellen spart sich die Stadtverwaltung, so winkt man vergebens und kommt sich wie ein Idiot vor, waehrend der Strom von Autos an einem vorbeizieht, denn vor lauter Angst, wird die Kundschaft nur ueber Funk vermittelt und von der Haustuer abgeholt. - Man wird durch so viele Dinge im oeffentlichen Leben foermlich dazu gezwungen, mitzukonsumieren. Mehrere Tage versuche ich ein Internetcafe zu finden, schliesslich stehe ich in solch einem Laden, vermisse aber die Computer. Man stelle hier nur die Anschluesse, den Laptop muesse man sich selber mitbringen. Auf meiner Fahrt durch Mexiko fand ich fast in jedem verschlafenen Ort einen oeffentlichen Internetzugang. Aus Mangel an Netzcafes unterliege ich dann in Nevada fuer die heilsame Zeit von vierundzwanzig Stunden dem Wahn, mir solch einen Klappcomputer zuzulegen. Aber dreieinhalb Kilo extra sind doch zu viel, ich bringe ihn zurueck und fuehle mich befreit. - Gott sei gedankt: Mir macht Einkaufen immer bedenklich Kopfzerbrechen, solange, wie ich oft an den Regalen im Supermarkt stehe, verstohlen zielstrebige Leute beobachte, fuer welche Produkte sie sich wohl entscheiden.
 
Vor allem im eitlen Sueden des Landes komme ich mir ueberall als Mensch zweiter Klasse vor. Das ist ein ganz neues Gefuehl fuer mich. Vielleicht sollte ich darauf eher stoisch regagieren, aber sich nichts daraus zu machen, das ist so eine Gradwanderung - der schnellste Weg, neurotisch zu werden! Nur ist es muehselig, wenn man sich staendig einreden sollte, man waere selber noch ganz in Ordnung, nur die breite Masse verhalte sich eben kuenstlich. Als vorwiegend Alleinreisender bin ich ja auf die Leute angewiesen, lebe von ihrer Herzlichkeit oder leide eben unter ihrer Gefuehlskaelte. Mein Trost ist, dass es das einzige Land auf meiner Tour war, wo ich mich wirklich einsam fuehlte. Wenn man es dann doch einmal zu einem Gespraech gebracht hat, sind es bezeichnender Weise die Leute selber, die von sich sprechen, als meinen Reiseeindruecken zuzuhoeren. Das zeigt mir einmal mehr, dass viele niemand haben, der ihnen zuhoert. Ich bin mir deshalb sicher, die einsamsten Menschen der ganzen Welt wohnen hier.

Mittlerweile finden sich ueber fuenfzig Prozent der Amerikaner uebers Netzwerk. Faehrt man im Auto durch die Gegend, braucht das dann noch lange nicht bedeuten, man waere einsam. Man kann sich zum Beispiel das Handy an den Kopf halten, wie ich jeden dritten Autofahrer hier beobachte und sonst wem oder sich selbst erzaehlen, dass man „gleich da“ sei. Bei meinem ersten Besuch 1997 funkten sich die meisten ja noch durch Pieper an, 'sympathisch', dachte ich damals, waehrend ja schon Asien und Europa von den Mobilphonen ueberschwemmt war, jetzt hat man auch hier nachgeruestet. Vor allem im Auto macht sich das gut, sie fahren doch vorwiegend Automatik, ausserdem sieht's schicker aus, als die ganze Zeit einen Kaffeebecher zu halten, ansonsten koennte man den rechten Arm ja fast abbinden.

Wie halbtote Leute sitzen sie hinter dem Steuer, sich hinter der Huelle aus Glas und Blech versteckend - kein Funken Froehlichkeit sprueht aus ihren Zuegen. Alles reiht sich ein, keiner faellt auf, wie Roboter funktionieren sie. Mein Bruder pflegt zu sagen, die besten Kommunisten wuerden „im Westen“ leben. Am Gluecklichsten sehen sie noch aus, wenn sie mit ihrem Handy telonieren. – „Seht her!", „Ich bin doch nicht einsam!"

Die Polizei ist wie in einer Diktatur dazu da, die Leute zu veraengstigen.  Alaska steht ja auch noch auf meinem weiteren Reiseplan, so sollte ich mich zusammenreissen, um nicht vorzeitig womoeglich mit „alien-status“ fuer 15 Jahre ausser Landes gewiesen werde. Offen gestanden, entdeckte ich mich dabei, eher meinen Mund zu halten und es graemt mich sehr, mich im so proklamierten „freiesten Land der Welt“ am Unfreiesten zu fuehlen. In ihrem speziellen Polizeifernsehkanal, wird es taeglich gezeigt, wie man zuerst zu Boden geknebelt und dann erst verhoert wird. Hoeflich gefragt wird ein Verdaechtiger hier nicht.
Solche Freiheiten entstehen, wenn es verfassungsmaessig verankert ist, Schusswaffen zu besitzen, ein Relikt aus den Gruendungsjahren, als der Neuamerikaner sein Leben und sein abgestecktes Land noch gegen die boesen Indianer verteidigen musste. Uebung im Schiessen holte er sich damals auch durch das wahllose Abschiessen der Bueffelherden, eine geschickte Art, die Indianer auszurotten, waren doch ihre Bestaende fuers Ueberleben notwendig. Die paar hundert uebriggebliebenen Exemplare leben heute wie Kuehe auf eingezaeunten Weiden. An der Agressivitaet und fehlender Akzeptanz dieser ungescholtenen Kolonisatoren anderen Kulturen gegenueber hat sich bis heute nichts geaendert.
Die Indianer hier im Sueden verhalten sich ihrer Zweitklassigkeit entsprechend still, sie leben in Kommunen auf dem Land, bekommen finanzielle Unterstuetzung vom Staat. Anfangs sprach ich sie mit Spanisch an, da ich dachte, es waeren Mexikaner. Diese Vermutung liegt gar nicht so fern, wenn man bedenkt, wieviel Land Mexiko im Unabhaenigkeitskrieg abtreten musste. Damals entstand auch das Wort „Gringo“. So naemlich riefen die Mexikaner den US-amerikanischen Soldaten in ihren gruenen Uniformen zu: „Green – men – go!“ -  Gringo!
Heute ist es vor allen in Zentralamerika zum Synonym fuer saemtliche Weisshaeute geworden.


Ich sitze also endlich wieder auf meinem geliebten Rad, durch Hollywood ueber die "walk of fame"- Meile ohne anzuhalten, kurbele ich aus dem Kessel Los Angeles gleich am ersten Tag auf 1200 Hoehenmeter herauf. Ich will nicht an der Kueste entlang, da mich dort die Feuchtigkeit der Jahreszeit abschreckt. So waehle ich eine Strecke oestlich der Sierra Nevada.

Ein Mexikaner schenkt mir einen Apfel, von Forstarbeitern bekomme ich eine Touristenkarte der umliegenden Picknickplaetze, aeusserst froh bin ich, endlich aus der Stadt heraus zu sein.
Die erste Nacht im Zelt ist kalt, drei Hosen und drei Jacken habe ich an, sonst dringt die Kaelte durch den Schlafsack. In Palmdale, einem 40 Kilometer langen Ort ist alles oestlich der Strasse mit Starkstrom eingezaeunt, dort baut "Boeing" und "Lockheed" neben Zivil- und Militaertechnik sogar am "Space Shuttle" herum. Wegen Regen und Schneeschauern muss ich dort ein paar Tage bleiben.  

Ausserhalb des Ballungsgebietes Los Angeles zeigen sich die Leute dann ein wenig freundlicher. An Raststaetten werde ich manchmal sogar angesprochen, es kramt ein Schwarzer im Laderaum seines Lieferwagens herum, zieht ein paar T-Shirts und eine Schirmmuetze heraus, ob ich das gebrauchen koennte, aber auf mein Gepaeck verweisend, muss ich ablehnen. Ich bekomme kaum die Taschen zu, schleppe Ketten, eine Ersatz-Felge, zwei Paar Reifen durch die Gegend, dabei habe ich fast kein Essen dabei.
“Gott muss es gut mit dir meinen”, sagt er. Darueber sinnierend, komme ich im Hinblick auf die 100.000 Menschen, die taeglich an den Folgen von Unterernaehrung sterben – in den Achtziger Jahren sprach man von 30.000 – zu dem Schluss, ich erlaube mir besser keine Meinung von Gott zu haben, lasse ihn lieber UEBER Gut und Boese, Zeit und Raum stehen, das wird einem Gott am besten gerecht. (Da einem ja erklaert wird, die Weltbevoelkerung wuerde sich bald verdoppelt haben, besteht in den Medien eben auch kein Interesse auf diese sich taeglich wiederholende Katastrophe hinzuweisen.) Ein Inder, der hinterm Tresen einer Tankstelle steht, kommt heraus und drueckt mir eine Papiertuete mit Instantnudeln, Nusspackung und Keksen in die Hand, draufgeschrieben hat er “ Good luck for your world tour”, “Mohni-D.” - Das ist Seelenfutter! Dem Namen nach muss er Moslem sein, ein Ami wuerde sagen, er verhielte sich christlich.

Nur langsam komme ich wieder in Fahrt, ich freue mich schon daran, endlich wieder unterwegs zu sein. Ein paar Wochen dauert es, bis ich mal wieder die Hundert-Kilometer-Marke knacke.
Erhaben zieht sich die Bergkette der Sierra Nevada im Westen entlang, man erzaehlt mir, in den 60er Jahren waere diese Gegend Drehkulisse fuer viele Westernfilme gewesen.
 
Nach einem kalten Tag im Gegenwind stehe ich abends in einem Dorfcafe und frage, nachdem sie mich drinnen fuer ungefaehrlich befunden haben nach einem kurzen Rundgang im zweiten Anlauf direkt, ob ich denn nicht irgendwo in einem der zahlreichen leer stehenden Haeuser uebernachten koennte, als bei diesem Wind mein Zelt noch aufbauen zu muessen. Schliesslich erbarmt sich Herb oder Ed - er hoert auf beides, zu Verwechslungen kann es in diesem 50-Seelen-Ort nicht kommen und laed mich in sein chaotisches Heim ein. Einstmals ein Wohncontainer hat er ihn durch mehrere Spanplattenraeume vergroessert. Messihafte Unordnung werde ich seitdem noch haeufig in Unterkuenften sozial schwaecher gestellter Amerikaner erleben.
Er geht gleich wieder, ich solle machen, was ich will. Drei Gewehre haengen an der Wand,  Messer liegen herum, einen Riesendolch will er mir spaeter schenken, damit ich gegen die Baeren gewappnet sei, es dauert eine Weile, bis ich ihn davon abgebracht habe.  Er ist ein Halbblut, ich solle mich nicht wundern, wenn ich seiner toten Schwester nachts im weissen Kleid durchs Haus wandelnd begegnete, aber ich solle auch keine Angst haben, meint er, sie sei mir gut gesonnen, sie haette mich sonst schon laengst vertrieben, als er mich alleine liess.

Ich finde so etwas aeusserst bemerkenswert, seine Ahnen in ewiger Liebe am Dieseits teilhaben zu lassen. Ins Totenreich gehen sie erst endgueltig, wenn die Lebenden ihre Verblichenen im dreidimensionalen Verstaendnis der Welt schlicht abgeschrieben haben.  Aus den Augen – aus dem Sinn! Eine trostlose Vorstellung, dieses abrupte Ende der menschlichen Liebe. Omnia vincit amor - Liebe ueberwindet alles, widerspricht der Lateiner. Am Beispiel naturverbundener Voelker, ihrem feinen unbeirrten Verstaendnis der Transzendenz kann der des sechsten Sinnes beraubte Neumensch, der Modemensch, der „Abgelenkte Mensch“ lernen, was die Welten verbinden wuerde. Das waere dann das Ende der Trostlosigkeit. Natuerlich wird der sogenannte “Primitive” aber nicht gefragt, es waere mal wieder dem Konsumverhalten des „Haben-Menschen“ abtraeglich, und dem gleichmuetigem Weisen muss man sein Wissen auch abverlangen, ungefragt wuerde er sonst nur verlacht.
 
Herbert erzaehlt mir, wie sein Wagen auf einer abgelegenen Strasse in einer Winternacht liegenblieb, er sich auf einen 37-Meilen Fussmarsch nach Hause begab. Vor Erschoepfung und Kaelte, schwindet sein Lebenswille, mehrmals will er nur noch schlafen, was seinen sicheren Tod bedeuten wuerde. Doch immer wenn er sich hinlegt, zeigt sich ihm ein Wolf, der an seinen Kleidern zupft und ihm zum Weiterlaufen bewegt. Woelfe gebe es in dieser Gegend aber nicht, fuer Indianer ist lupus ein mythisches Tier. Am naechsten Tag ist er schon weg, ich sage ihm nur in Gedanken Lebewohl.

Es ist immer noch unangenehm kalt, der Himmel zeigt sich bedeckt, entweder ergiesst er sich am Nachmittag in Regen oder es schneit gar. Auch die Farmer klagen ueber die ungewoehnliche Kaelte der Jahreszeit. So muss ich oft in Motels uebernachten, was meiner Reisekasse empfindlich zusetzt. Hier in Nevada ist es mit achtundzwanzig Dollar pro Nacht dazu noch am Billigsten. Will ich dann mal das Zelt aufstellen, stoeren oft die Zaeune und ich stelle mir die bewaffneten Besitzer dazu vor. Dann gibt es noch Wohmobilparks, aber dort darf ich dann nicht zelten, „Vorschriften“, erklaert man mir ausweichend, “es sei kein ausgewiesener Zeltplatz”, dabei ist es die blanke Angst vor mir, dem Nicht-Einzuordnenden.

Die Gegend hat wuestenhaften Charakter es gibt ein paar Kiefern, ein rauher Wind weht vom Osten her, bis auf 2300 Meter steigt die Strasse an. Und doch machen Momente der Stille diese Landschaft schoen und erhaben. Die Siedlungen sind oft zerfallen, Autowracks rosten neben ausrangierten Haushaltsgeraet und alten Landwirtschaftsmaschinen vor sich hin. Nur die Antenne auf dem Dach laesst auf Bewohner schliessen. In den Kneipen langweilen sich zerfurchte Goldgraebergestalten, ungeschminkte Frauen schenken duennen Kaffee aus. Dieses „Amerika“ erscheint mir dennoch echter, als die nur auf Aeusserlichkeiten bedachte Scheinwelt der Ballungsgebiete. Viele Maenner in den laendlichen Gebieten froenen dem Kautabak. Darunter leiden dann die Zaehne. Einer erklaert mir einleuchtend, es sei leichter, sich ein neues Gebiss setzen zu lassen, als die Lunge auszutauschen.

Gar nicht weit von hier befindet sich das „Area 51“. Strassen fuehren nur ausserhalb dieses Sperrgebietes herum, welches auf neuen Karten in weiss gehalten wird, aber wozu gibt es „googleearth“. Man sagte mir, Eindringlinge duerften ohne Vorwarnung erschossen werden. Die bekannteste Geschichte zu diesem militaerischen Stuetzpunkt kursiert um einen womoeglichen UFO-Absturz 1947 bei Roswell/New Mexico, dessen ausserirdisch zu beklagende Alienleichen hierher ueberfuehrt worden sein sollen. Sicher ist man sich aber darin, dies sei ein Testgelaende fuer Flugkoerper groesster Geheimhaltung.
 

Langsam bekomme ich hier den Blues, fast niemand spricht mehr mit mir. Der Grund fuer ihr skeptisches Verhalten ist sicherlich darin zu suchen, dass man in diesem Land ja durchweg auf „Erfolgskurs“ fahren will, ein Radfahrer augenscheinlich nicht darin hineinpasst, von dem auch nichts anderes als Opposition zu erwarten ist. Meistens will man erstmal herausfinden, ob ich ueber finanzielle Mittel verfuege, bevor man sich auf ein Gespraech mit mir einlaesst. Solche Gelegenheiten sind dann vor Supermaerkten, Tankstellen, nach Begleichen der Hotelkosten. (Ein bulgarischer Freund zog seinem Maedchen nach Colorado hinterher. Ich solle ihn doch besuchen, aber der Abstecher ist mir zu weit. Ich frage ihn nach neuen Freunden, er sagt, „Johnnie Walker“ sei sein bester Freund geworden.)
Die Amerikaner haben es nie gelernt, ihre Gefuehle zu zeigen, kein Wunder wie der Gang zum Psychater im Land schon ganz selbstverstaendlich geworden ist. Die Hand zu geben ist unueblich, man aengstigt sich vor Keimen und Judotricks. Natuerlich koennen sie einem Fremden auch aus lauter Hoeflichkeit die Hand geben, doch man merkt es am „wegstossenden Druck“, wie unangenehm es ihnen eigentlich ist. (Man bemerkt allgemein viel am Haendedruck, sonst wuerde man ihn nicht austauschen.) Sie umgeben sich mit Schalen, tragen Masken uebereinander, Laecheln verkommt hier zu einer weiteren Pose, sie schliessen sich ein, nicht nur im Auto und zu hause, sondern auch in sich. Ein typisches Beispiel dafuer ist fuer mich uebertrieben anmutend schrilles Quieken von juengeren Frauen, wenn sie fuer einen Augenblick lang meinen, aus sich herauszugehen. Der Satz „We’ve had a lot of fun.“, droehnt mir noch jetzt in den Ohren, sooft, wie ich ihn gehoert habe. Unter „einer Menge Spass“ versteht man hier im Mutentenland all das, was man durch Geldausgaben erreichen kann. Ueberladene Autos fuer einen Wochenendtrip fallen darunter, ebenso Essen gehen, selbst eine Wohnung zu besichtigen ist „a lot of fun“ fuer die Menschen aus Disneyland, welches man jetzt schon als Kulturgut betrachtet. Man weiss es einfach nicht mehr, sich an „kostenlosen“ Dingen zu erfreuen. Wenn sie sich unterhalten, hoert man sie oft in Zahlen sprechen. Charakter zaehlt nicht, nur „money talks“, wurde ihnen ja von klein auf vorgebetet, so ist der eben meist ziemlich verkuemmert.  Unter Spass definiere ich all die Gelegenheiten, bei denen ich herzhaft lachen kann. Genauso auffallend haeufig verwenden sie das bedeutungsschwere Woertchen „love“. So viel an warmluftigen Nichtigkeiten werden hier damit verschoenert.
  
Ein landesweites Hobby, eine Laune, denn der Haupteifer kommt dem Geldverdienen zu, ist die Suche nach Identitaet. Jeder, der unbeirrbar seinen eigenen weniger ausgetretenen Weg geht, wird, falls er erfolgreich damit ist, zu einem weiteren Symbol des “All American” erhoben, auch wenn er sich nichts daraus macht. Saemtliche Schriftsteller und Dramatiker, Kuenstler, egal ob sie sich kritisch zum System aeusserten, und der Wahrheitssucher muss sich damit kritisch auseinandersetzen,  haben es zumindest im eigenen Land zu Nationalhelden gebracht. Man ringt hier um Kulturgut, das ja einzig die sichtbaren Blueten einer Gesellschaft traegt und ihren Fortbestand berechtigt.

Von klein auf wird ihnen eingeredet, sie waeren die Groessten, die Besten und so weiter, immer in der Superlative.
Sie haben eine zweite „interne“ Nationalhymne: „Gott segne Amerika“, die wird morgens in den Schulen gespielt, zu jedem Sportereignis heruntergeleiert. Demnach ist Gott befangen. Dass Gott die Queen schuetzen soll, kann ich mit britischem Humor noch nachvollziehen, aber ein ganzes Volk zu segnen? Zustaende wie im Alten Testament! Soweit ich weiss, wird jedem Israeli die amerikanische Staatsbuergerschaft hinterhergeworfen. Was, weit hergeholt? Ein Tabuthema?
Immer wieder wollen die Amis missionieren, unzaehlige amerikanische Freikirchen in Entwicklungslaendern erfreuen sich grossen Zulaufs, wodurch sie ihre kalte Welt auch noch durch die Bibel schoenzureden versuchen, bei der Oeffentlichkeitsarbeit nach neuen Sympathisanten. Dahinter steckt ein System, man darf sich nicht taeuschen lassen, man wuerde hier irgend etwas aus reiner Naechstenliebe machen: Tatsaechlich sollen etwa die Haelfte der Amerikaner einschliesslich des Praesidenten der festen Ueberzeugung sein, die Welt beginne mit Abraham, der Mensch sei deshalb nicht aelter als 6000 Jahre, dem Beginn der juedischen Zeitrechnung. Das beschreibt wohl am Besten ihre Ignoranz. Nur weil „das auserwaehlte Volk“ wahrscheinlich auf die aelteste schriftsprachliche Ueberlieferung verweisen kann, brauch ich mich noch lange nicht mit ihnen verbunden fuehlen oder gar unterwerfen.
Ein Gott, der mich pruefen wollte, ob ich so gehorsam sei, mein Kind fuer ihn zu opfern? Der mir dann verspricht, mich ueber alle Voelker zu setzen, ist ein patriotischer Gott, kein einiger Gott! Nicht nur dass jede Kultur ihre Goetter hervorbringt, die Gottesvorstellung ist mentalitaetsbedingt, genauer konstruiert jedes Individuum nach eigenem Gemuet seinen Gott. Deshalb verehrte man frueher auch viele Gotter, bis man proklamierte, es gaebe nur einen Gott, um die weltliche Macht des Klerus zu fokusieren. Ich vermute deshalb, bei der Aufnahme und Wiedergabe seines Wortes gab es damals wohl einige individuelle Missverstaendnisse. Auch stoert mich, wie zwischen dem Alten und dem Neuen Testament unterschieden wird, Gott haette sozusagen seine Meinung geaendert,  sei nur noch im Geheimen der Gott Israels und oeffentlich der Gott der Christenheit.
Gott schuf den Menschen. Wer schuf Gott? Die Griechen wollten es wissen: Die Menschen!
Was wuerden die Goetter ohne die Menschen machen? – Es wuerde ihnen sehr langweilig werden! Deshalb: Nur keine Furcht vor dieser Symbiose! Wie Hermann Hesse bezugnehmend auf Jakobs biblischen Kampf feststellt, machen die Menschen sich Goetter und kaempfen mit ihnen, und sie segnen ihn uns.  


Es sammeln sich hier Leute aller Laender unter dem Aspekt, reich werden zu wollen, die binden sich dann sogar irgendwann ihre neue Nationalflagge um den Kopf und alle Tradition und Herkunft wird ueber den Haufen geworfen. Trotzdem bleiben sie Fremde, wie sich ja die meisten Amerikaner untereinander fremd sind. Im Rentenalter ziehen dann viele in riesige Wohnmobile um, ja manche verkaufen sogar ihr Haus dafuer, so wenig haben sie eine Beziehung zu ihrer Umgebung und den Nachbarn aufgebaut und fahren mit Strudel im Tank durch ihr Land.

Da kann man nun sehen, was nach knapp zwei Jahrhunderten Kapitalismus in seiner reinsten Form daraus geworden ist: eine hoch manipulierte Gesellschaft, die sich in die technische Abhaengigkeit begeben hat.
Aeusserst wenig wird auf internationaler Ebene berichtet, so haelt man sich den kleinen Mann patriotisch-dumm. Eine abendliche Weltnachricht im amerikanischen Fernsehen ist allen Ernstes, wenn im fernen New York ein Kind von einem Hund gebissen wurde, kein Witz!  Die Medien sind sich weltweit ihrer Staerke bewusst, es gibt praktisch keine ungefilterten Nachrichten, gesendet wird das, was fuer das jeweilige System am Schadlosesten beziehungsweise am Nuetzlichsten ist. Fragt sich mal einer, wie es sich ohne diesen aufgebauschten allabentlichen Nachrichtenrummel leben liesse? Man machte morgens das Fenster auf und koennte entscheiden, wie man sich heute dem Wetter entsprechend kleidete. Die Welt haette auch die zwei Hochhaeuser nicht einstuerzen sehen - dem damaligen Sitz des Welthandelszentrum, so wie man ja auch nicht zu sehen bekommt, wie sich taeglich 100.000 Menschen durch die Erfolge der Handelspolitik - an den Folgen von Unterernaehrung zum Sterben angehen. Katastrophale Auswirkungen fuer die Wirtschaft waeren sicherlich die Konsequenz. Abend fuer Abend wuerden einem die Bissen vorm Fernseher im Hals steckenbleiben, sehr wahrscheinlich wuerden viele zu helfen anfangen, bis ihnen ihre Speisen wieder mundeten.
Gerade weil der Alltag in den USA so kuenstlich ist, hat die Film-und Fernsehindustrie einen so grossen Stellenwert im Privatleben. Man lebt foermlich mit den Stars, integriert sie ins eigene Leben, welches dadurch an Bereicherung erfaehrt.
 
Stellt der Leser fest, wie alles Aufgefuehrte, all die kleinen Schritte zur Unmenschlichkeit doch auch ans eigene Land erinnern, ja er muss sich dabei auf den Schlips getreten fuehlen, es ist verzwickt, ich weiss.  Dabei spielt diese Geschichte nur ein paar Flugstunden entfernt?  So sei ganz wichtig zu bemerken, dass sich dieses Land als Spiegel verstehe, wie sich der Rest der Welt in ein paar Jahren entwickeln wuerde oder eben wird, man kann es als Geschichte im positiven Sinn betrachten, wenn man je gewillt ist, aus der Geschichte zu lernen oder eben nicht. Denn die vermeintlichen Spoetter Europas wie Asiens sind allesamt nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt. Und der Toerichte zeigt sich an seiner Schadenfreude. Es sind nicht etwa die Menschen, die schlecht sind, es ist das System, was diese hervorbringt. Bis in den letzten Winkel der Erde kriecht diese Krankheit, laesst die Dummheit mit ihrer Ignoranz regieren. Es stellt sich die Mode wider der Tradition und will es besser wissen.


Da ich ohne Informationen unterwegs bin, die Interstates nicht befahren darf, mich so haeufig im Zickzackkurs meinen Zielen naehere, gerate ich auch einmal auf eine Nebenstrasse, die sich immer steiler einem Canyon herauf windet. Die ist teilweise unterspuelt und fuer den Verkehr deshalb mit Schutt und Erdwaellen versperrt. Rotwild betrachtet mich ueberrascht; schoen ist es, wieder unter sich zu sein.
Im Regen baue ich mein Zelt am naechsten Tag ab, immer hoeher zieht sich die Strasse, der Regen wird zu Schnee, der Wind immer stuermischer, ich kann nur noch schieben und bedauere es, nicht die Schuhe ausgepackt zu haben. Endlich erreiche ich ein skurriles Staedtchen namens Virgina-City, ein wegen den umliegenden Silberminen ehemals pulsierender Ort, auf 1980 Metern gelegen! Ich suche mir eine geschuetzte Hauswand, atme durch, bis ich mich soweit erholt habe, die skeptischen Blicke der naechsten halben Stunde ertragen zu koennen. Die Hauptstrasse ist huebsch im Westernstil erhalten. Man geht auf Holzplanken unter den ueberstehenden Stockwerken an Saloons, Souvenirshops und Restaurants entlang. Samuel L. Clemens liess sich hier im Jahre 1862 fuer 25 Dollar pro Monat beim Lokalblatt anstellen und verliess den Ort 22 Monate spaeter als Mark Twain.
Nach der teuren Nacht im Touristenort, rolle ich dann auf der anderen Seite ins Tal nach Reno hinab. Dort miete ich mich fuer ein paar Tage in einem schaebigen Motel ein, dessen weitere Gaeste ich besser gar nicht kennen lernen will. Die Reifen muessen gewechselt werden, eine Felge speiche ich um, ohne Auto bin ich immer eine Stunde zu Fuss unterwegs, um den naechsten Supermarkt zu erreichen. Die Buergersteige habe ich, Zweite Klasse, aber so fast fuer mich alleine, nur ein paar Obdachlose trifft man auf seinen Gaengen entlang des Autoflusses.

Noch einmal fuehrt mich die Strasse zurueck in den Norden Kaliforniens und bringt mich weiter nach Oregon. Was man im Land alles auf der Strasse findet! Da liegen Schraubenschluessel, neue Plasteeimer, noch eingeschweisste Porno-DVD's, Sonnenbrillen, Kugelschreiber, Loeffel, Messer, Gabeln. Selbst einen neuwertigen Staubsauger, wahrscheinlich bei einer schnellen Kurve von der Ladeflaeche des Pick-ups gefallen, finde ich. Mir ist’s schon leid zu bremsen, ich brauch’s ja nicht, denke mir aber haeufig, ich koennte es ja auf einer Parkbucht sichtbar liegenlassen, damit es nicht unnuetz im Graben herumliegt. Vom Auto aus sieht man diese Sachen ja nunmal nicht. Einmal bremse ich auch fuer eine rote Bohrmaschine (Soweit ich weiss, bezeigt die Farbe eines Werkzeugs ihren Qualitaetsgrad – rot ist demnach gefaehrlich hoch). So fahre ich ein paar Biegungen zurueck, um sie einem Asiatenpaerchen beim Kraeutersammeln im Strassengraben zu geben. Stattdessen schaut mich der Typ feindlich an, bringt keinen Ton heraus. Dann lege ich sie auf den Seitenstreifen und lasse meinen ploetzlich aufwallenden Frust ab, sie haetten ja alles doppelt und dreifach hier in ihrem Ueberfluss und nicht noetig, irgendwas fuer umsonst anzunehmen. Oftmals sind diese Neuamerikaner noch schlimmer in ihrem Wahn den alteingesessenen US-Buerger zu kopieren. Wer hier leben will, findet sich mit den Umstaenden zurecht, uebernimmt, imitiert, will alles lieben lernen.
Warum sie ihre Kraeuter dann nicht im Bioladen kaufen, sondern neben der Strasse zupfen, denke ich mir veraergert beim Weiterfahren.

Im Suedwesten Oregons durchfahre ich Waldgebiete, weiter noerdlich erstrecken sich dann Felder bis zum Horizont. Die verzaunte Landschaft macht mir das Zelten auch weiterhin nicht einfach. Aber ich kann auch einmal in einem leeren Bungalow uebernachten ein anderes Mal zwischen unbewohnten Gebaeuden mein Zelt aufbauen. Ich darf ihnen ihr Manko an Gastfreundschaft einfach nicht uebelnehmen, muss ihrer Ueberflussgesellschaft nachsehen, sich nicht vorstellen zu koennen, was ich auf der langen Reise durch die Welt fuer positive Erfahrungen gesammelt habe. Hier lerne ich, dass nichts selbstverstaendlich ist, wie ich es so oft schon gewoehnt war: ‚Da kommt ein Reisender, nun, es daemmert, er braucht wahrscheinlich einen Unterschlupf, Hunger hat er sicher auch, da kann er ja mit uns zusammen essen. Ausserdem wird er sicher eine Menge zu erzaehlen haben.’ - So war ich’s oft gewoehnt und das ist menschliches Verhalten. Dabei greife ich nur den kleinen Finger, freue mich uebers Essen und schlafe lieber im Schuppen. In den USA wurde ich viermal in meinen zwei Monaten eingeladen. Diesen Menschen bin ich dafuer ueberschwenglich dankbar, weil sie viel wettmachen.

Der Columbia-Fluss zieht die Grenze zwischen Oregon und Washington. Einstmals war er der Zentralfluss des Kontinents, an dem sich die Staemme zu Tauschgeschaeften trafen. 1957 wurden den Indianern die Rechte am traditionellen Lachsfang fuer 26 Millionen Dollar abgekauft und der Fluss mit Daemmen und Schleusen schiffbar gemacht, was gut fuer das Transportwesen und schlecht fuer die Fischwanderung ist. Ich betrete durch ein Loch im Zaun am Abend einen Statepark am Flussufer und biwakiere unter einer Ueberdachung. Am naechsten Tag verlasse ich den Park wieder durch dieselbe Oeffnung und denke mir, dies sei eine gute Sache hier, bis ich am zweiten Abend bei der Anfahrt des naechsten Parks feststelle, man wolle dafuer 16 Dollar. (“Was, du kannst dir das nicht leisten? - Dann arbeite doch mehr!”)

Dauerregen macht dem „Evergreen-State“ alle Ehre. Von meiner geplanten Abkuerzung entlang des Mount Saint Helena raet man mir ab, der Regen wuerde dort oben als Schnee fallen und die Schotterstrasse unpassierbar machen, so muss ich leider entlang des Flusses weiterfahren, jeden Tag Geld fuer ein trockenes Plaetzchen herauswerfen. In Bingen, der gleichnamigen Partnerstadt Deutschlands habe ich dann das beste Gespraech seit meiner Abfahrt mit dem Betreiber der Jugendherberge, zwar unterhalten wir uns nur zwischen Tuer und Angel, aber was will man hier im Land gross erwarten.
Die Jugendlichen sind etwas entspannter als im Sueden, drehen sich auch mal nach mir um, tragen wieder lange Haare und modisch zerrissene Kleidung. Vor Seattle fahre ich dann fuer zwei Tage auf dem Freeway, ein Trucker schuettelt mir spontan die Hand zu meiner Tour (Fast will ich jeden erwaehnen, der in dem Land nett zu mir war.) Einem Jungen helfe ich ueber einen halben Kilometer sein Auto zu schieben. Zum Schluss zeigt er mir seinen Geldbeutel mit zwei Ein-Dollar-Scheinen drin, die er mir zu geben gewillt ist. Ich kann es mal wieder nicht fassen, was fuer einen billigen Eindruck ich hier anscheinend auf die meisten Leute mache, lasse ihn und seine Freundin kopfschuettelnd stehen.  Eine Ausweichroute bietet sich endlich an, wo mir idyllisches Amerika entgegen weht. Auf ruhiger Waldstrasse rolle ich entlang gepflegter Anwesen.

Tagoma, die Stadt vor Seattle schockt mich mit Junkies, die unruhig suchend die Bahnhofsgegend bevoelkern. Am naechsten Tag hab ich es endlich in die zentrale Jugendherberge von Seattle geschafft. Vor ein paar Wochen stellte ich ja fest, in der Stadt faende ich das letzte russische Konsulat, auf meinem Weg nach Russland, wo ich mich um mein Visa bemuehen koenne.
In meinen besten Sachen, klopfe ich dort tags darauf an, wir einigen uns auf Spanisch als Weltsprache, aber sie koennen mir nicht weiterhelfen, schicken mich sechs Stockwerke in diesem Hochsicherheitsgebaeude herunter ins „Vostok“-Reisebuero. Ein baertiger junger Mann oeffnet mir mit einem Bier in der Hand. Zwei Minuten spaeter habe ich auch eins und sechs Stunden darauf sind wir beide restlos betrunken, eigentlich schon nach drei Stunden, aber wir rafften uns noch einmal auf. Sasha kommt aus Moskau, nur lebt er schon dreizehn Jahre hier und betreibt dieses Reisebuero mit Schwerpunkt auf den „Fernen Osten“ Russlands. Das passt ja prima und diese Vodka-Taufe ist also dann mein erstes „Willkommen in Russland“. Leider koennen aus unbegruendeten Gruenden Deutsche und Oesterreicher russische Visa bisher nur im eigenen Land beantragen. Die meisten reisen sowieso von Westen an, da ergeben sich ja keine Schwierigkeiten. Ich muss meine Papiere also zum Konsulat nach Bonn schicken, Sasha besorgt mir die Einladung fuers Land und gibt Tips fuer eine machbare Reiseroute.
Nachdem ich die ganze Zeit den Frust in mich hineinfressen musste, kann ich mich endlich mit jemanden ueber das Volk hier amuesieren.

Auch ein Aids-Test wird anscheinend fuer Besucher verlangt, die laenger als drei Monate in Russland bleiben wollen. Fuenf Tage dauert es, bis ich die Analyse abholen kann. Miriam und Philippe treffe ich im Hostal, ein deutsch-schweizerisches Paerchen, mit den Raedern von Feuerland nach Alaska unterwegs. Die haetten eine gute Zeit in den USA gehabt. Sie fuhren die Radroute an der Kueste entlang, die mit so genannten „Wander&Rad-Zeltplaetzen“ ausgeschildert sei. Dass sie als Paerchen natuerlich andere Erfahrungen gemacht haben, leuchtet mir ein, man erregt im Land so keinen Verdacht, gefaehrlich zu sein, verueckt oder beides, wie gehabt. Dann ist man auf dieser in den Reisefuehrern empfohlenen Rad-Route an das Bild von Reiseradfahrern eher gewoehnt, billiger war es auch fuer sie. Aber bereut habe ich meine Strecke nun nicht, will ich mir einreden, ich habe sicherlich echtere USA im Hinterland gesehen, als die strahlenden Menschen, die es sich leisten koennen, an der Kueste zu wohnen.   

In der Stadtbibliothek versuche ich in der Zwischenzeit meinen letzten Reisebericht zu tippen, dort trifft man auf viele schraege Gestalten, die morgens vom Obdachlosenheim am einen Ende von Downtown Seattle einen der kostenlosen Busse im Zentrum besteigen, sich dann in den Etagen der Bibliothek aufhalten, um fuer ein paar Stunden der Illusion zu froenen, sich wie normale Menschen zu fuehlen. Gegen Abend schlurfen sie dann los, kaufen Essen, Getraenke, Drogen ein, bevor sie ein anderes Obdachlosenheim am anderen Ende der Stadt zur Nachtruhe waehlen. Tagtaeglich koennte man ermuedende Gesellschaftsstudien allein in diesen Raeumlichkeiten anstellen. Einmal fragt mich ein junger Mann nach ein paar Muenzen fuer den Kopierer, ein paar Tische abseits fuehlt sich ein anderer dadurch beim Studieren der Tageszeitung gestoert und wird ausfallend. Ich fluche ihn an, wie er sich an unseren drei Saetzen stossen kann, waehrend seit geraumer Weile einer von diesen Pennern hinter ein paar Buecherwaenden seinen Darmblaehungen nachgibt und danach jedes Mal vor Wohlsein laut seufzt, ob ihn das nicht weiter auffalle. Einen fetten Typen sehe ich noch jetzt, wie er an einer Fussgaengerampel lehnt und zu jedem Passanten gelangweilt meint: „Homeless, change.“ - Man wird verrueckt, wenn man damit aufhoert, sich zu fragen, ob man es schon sei.  Psychatrische Anstalten wurden wegen der unnuetzen Kosten abgeschafft, so treibt sich alles frei herum. Seattle, die Stadt Kurt Cobains, der Geburtsort von James Ingram Hendrix, hat den Ruf als Drogenhauptstadt des Landes zu gelten.
Man duenkt sich ja in einer freien Welt, wo es jedem gestattet sei, sich zu benehmen wie man wolle. Selbst die Obdachlosen nimmt man politisch korrekt in Schutz, aber deshalb hilft man ihnen noch lange nicht. Viele fuehren auf der Strasse Selbstgespraeche, anscheinend gilt es hier als schick, seine Neurosen oeffentlich vorzufuehren - das Umfeld praegt eben.          
Matthias Claudius definierte, Freiheit bestehe darin, alles das zu tun, was dem anderen nicht schadet. Ich empfinde die ganzen Freilaufenden, Losgelassenen als belaestigend. Die vielen frech nach Kleingeldforderungen suchenden Augenpaare der “Problemfaelle” erfordern es auch wieder, sich diesen durchsichtigen Blick anzugewoehnen.
  
Aber ich sehe endlich Licht in diesem Tunnel – mein baldiges Reiseende im Land, so fange ich auch wieder an, meine Meinung zu sagen. Als ich weiter der Grenze entgegenfahre fauche ich zu einem unfreundlichen Jungen, den ich nach dem Weg fragen wollte, zurueck, wie froh ich waere, bald aus dem Land heraus zu kommen, um ein bischen gegen den lokalen Wahn zu wirken, alle Menschen der Erde wollten hier leben. Alleine jemanden fuer eine Auskunft zu finden, der nicht im Autos sitzt, erwies sich oft als schwierig.
Meine letzte Nacht ist mal wieder eine versoehnliche, wie ich bei einem aelteren Paerchen um Zelterlaubnis frage, ich ein Vier-Gaenge-Menu vorgesetzt bekomme, so angstfrei und gelassen sind sie, da freut man sich einfach. Ein Zimmer soll ich beziehen, alles so frisch und rein, dass ich lieber in der Werkstatt schlafe.
Aber ich bin ja auch so nah an der kanadischen Grenze, es weht foermlich schon ein frischerer Wind von den schneebedeckten Bergen dort drueben her.

An der Grenze erkundigt sich der kanadische Beamte dann nach meinen Finanzmitteln, ein kurzer Anruf und schon habe ich, ohne diesmal Rueckflugtickets vorzeigen zu muessen, ohne Finger- und Augenscan meine drei Monate Visum. Der Leser glaube mir, wie ich selbst jetzt beim Aufschreiben aufatme, das Kapitel USA bis auf weiteres abgeschlossen zu haben. Es tut mir leid, aber ich kann ihnen schwerlich verzeihen, wie sie mich einsam fuehlen liessen. Dazulernen konnte ich dort nicht viel, eher lernte ich im negativen Sinne. Es hat eine Menge gekostet und dafuer wurde wenig geboten. Sie nehmen sich sosehr wichtig, dass sie weltweit wo immer sie auftauchen, den Lehrmeister spielen wollen, dabei haetten sie es am Noetigesten, dazuzulernen. Gerade im Ausland macht mich ihre Gegenwart haeufig beklommen, weil ich dort - unter richtigen Menschen - wieder an ihre mangelnde Herzenswaerme erinnert werde.


So nah zu den USA ist Kanada doch so viel freundlicher, wie kann das nur moeglich sein, frage ich mich. Viel mehr Radfahrer entdecke ich, was gleichzusetzen ist mit weniger Aengstlichkeit. Auf meine Fragen bleiben die Leute stehen und antworten freundlich. Endlich habe ich dieses Trauertal hinter mich gebracht.

Zehn Tage bleibe ich bei Kirstin und Heimdal in Vancouver. Sie sind sozusagen, meine ersten Bekannten, die ich unterwegs wiedersehe. Ich bekomme eine Stadtfuehrung und Altes neu erzaehlt. Gutes Essen wird aufgetischt, wir achten darauf, dass die Getraenke nicht ausgehen. Im Ganzen ist’s eine schoene Zeit. Ich darf mir nach etwa 28 Jahren wieder eine Inszenierung von „Peter und der Wolf“ ansehen, bin schlicht ergriffen, waehrend Heimdal bange wird. Ich soll ein wenig Papa spielen, ich werde immer mehr integriert, ich muss dann weg. Dann fahre ich durch die moderne, weitraeumig angelegte Stadt und setze nach Vancouver-Island ueber. Man hat mir die Insel so lange schmackhaft gemacht, bis ich mich darauf einliess. Auf der Faehre treffe ich einen Motorradfahrer, der gerade von einem Kurztrip aus Baja-California zurueckkommt. Der laed mich spontan zu sich nach Hause ein. Das Wetter zeigt sich schon seit knapp zwei Wochen von seiner sonnigen Seite. Am naechsten Tag rolle ich weiter nach Norden. Den Radhelm, den ich mir wegen dem Gesetz in British-Columbia und dem nun fehlenden Reisepass in Vancouver noch holte, verschenke ich, da mir jetzt schon einige Radfahrer ohne solchen auffielen. Schwerer Verkehr ist ab jetzt und fuer den Rest des Jahres sowieso nicht mehr zu erwarten.
Die naechste Stunde fuehle ich mich etwas unsicher, dann denke ich schon nicht mehr darueber nach. Es bereitet mir einfach Kopfschmerzen, einen Radhelm laenger zu tragen, zu locker darf er nicht sitzen, doch wenn dann das Blut an den Schlaefen pulsierend an das Helminnere pocht ist es mir bald unangenehm. Sicherheit verschafft mir dagegen mein Rueckspiegel, der dagegen vielen Helmlobbyisten fehlt. Daneben steht die Fuhre mit Fahrer nach dieser gemeinsamen Reisezeit souveraen als Einheit da, Angst wuerde nur Unsicherheit schueren und sich verheerend auf das Fahrverhalten auswirken.

Es solle hier von Schwarzbaeren wimmeln, ich habe mir dazu, wie es fuer Baerenland ueblich ist, Pfefferspray zurechtgelegt. Ein reiselustiges kanadisches Paerchen erklaert mir, sie haetten das immer dabei, in Kanada wegen der Baeren, in USA wegen den Menschen.
Auch noch an einer Steigung habe ich dann meine Baerentaufe: Im Fruehjahr nach dem Winterschlaf fressen sie ja erst einmal vegetarisch, bis im Herbst die Lachse und die Waldhoernchen appetitlich dick und traege geworden sind. So grasen sie in den Abendstunden gerne auf den Gruenstreifen neben der Strasse, vertraut sind ihnen die Autos, vor denen sie keine Gefahr wittern, hoffentlich kennen sie auch Fahrraeder. Ich bleibe stehen, lache unsicher, das Baby trollt sich den Hang hinauf und verschwindet im Wald, doch Mutter ruehrt sich nicht und schaut mich interessiert an. Beim dritten Anlauf, glaube ich dann genug Geschwindigkeit zu haben, um schnellstmoeglich an ihr vorbei zu kommen. Dabei rufe ich ihr auf Baerendeutsch zu, sie solle mich bloss in Ruhe lassen, ich wolle nichts von ihr, nur vorbei will ich. Natuerlich passiert nichts, sie bleibt auf ihrem Platz, als bruete sie Eier aus. Die Phobie ruehrt noch von Botswana, als ich zwei Tage lang an den Auslaeufern des Chobe-Nationalparks entlangfuhr und mir jedes Mal das Herz stehenblieb, wenn ich an ausgewachsenen Elefanten vorbeijagen musste.

Da ich bei der Auswahl des Schlafpaltzes nun vorlaeufig verunsichert bin, will ich in der naechsten Siedlung auf dem Grillplatz schlafen, aber dort ist eine Schulabschlussparty im Gange, weshalb man mir davon abraet. Die Frau vom Lebensmittelladen nimmt mich dann mit in ihren Bungalow. Dreimal wurde Shaline im letzten Jahr ohne Schuld in Autounfaelle verwickelt, was ihre Wirbelsaeule nun beschaedigt haette und ihrer Ehe auch nicht standhielt. Sie ist so herzlich sarkastisch, soviel Glueck im Unglueck gehabt zu haben, jetzt lebt sie seit ein paar Monaten hier, abgeschieden mit ihrer Mutter, da sich anderswo Arbeit fuer sie nicht mehr finden liess.

So viel angenehmer ist es als beim Nachbarn, man uebt sich im Vertrauen, ich bekomme viel mehr spontane Einladungen, die Leute sind tausendmal weniger argwoehnisch, auch die Cops sind viel entspannter, gestern fand ich im Waschsalon Internet fuer umsonst – solche kleinen Dinge machen das Land liebenswert. Ich glaube, man ist absichtlich so nett, um den Unterschied klar hervorzuheben, selbst immer mehr US-Buerger ziehen hierher. Amerikaner geben sich in kritischen Auslaendern auch gerne als Kanadier aus, so erwecken sie keinen Argwohn und entgehen unangenehmen Fragen.

Die neue Regenjacke macht sich so gut, dass mich das Wetter zum ersten Mal nicht weiter stoert.
Ich treffe einen jungen Radmann, der seit fuenf Tagen auf seiner Weltreise ist. Er hat neben Klappstuhl auch eine Webseite, auf der er seine ganze Route um den Planeten schon eingezeichnet hat – nichts leichter als das! Er will anscheinend alle Kontinente an den Kuesten umfahren, falls es da ueberall Strassen gibt, sind das locker 300.000 Kilometer.
Vor Port Hardy bekomme ich Elektropost von Miriam und Philippe, wo ich denn sei. In der naechsten Nacht am Faehrhafen schlagen sie dann etwas neben mir ihr Zelt auf. Und so bleiben wir dann auch fuer die naechsten zwei Wochen zusammen.  Die Insel hat ja hier ihr Ende, jetzt geht es mit der Faehre in 20 Stunden etwa 1000 Kilometer durch den Prince-William-Sound nach dem kleinen Staedtchen Prince Rupert. Die Sicht ist truebe, an den Ufern ziehen sich bewaldete Haenge steil hinauf, ein paar Gletscher zeigen sich, die Menschenleere ist beeindrueckend, hier beginnt Abenteurers Spielplatz, eine Fahrt ins Weite, in die Stille der Wildnis – der Eintritt in eine andere Welt. Selbst das Tageslicht bleibt nach dieser „Abkuerzung“ merklich laenger.
Eine gute Zeit ist es. Zeltplaetze gibt es genug, manchmal sogar kostenlos. Die Saison hat mit unserer Faehre nun begonnen, so sind wir Radfahrer auch gern gesehen. Gerade durch Miriams Erscheinung ist man uns haeufig nicht nur freundlich, sondern zuvorkommend gesonnen. Morgens sind die beiden mit vier Haenden natuerlich flinker als ich, so fahren sie eher los und wir treffen uns haeufig erst abends wieder. Das ist mir auch recht, denn sonst spiele ich nur das fuenfte Rad am Wagen oder eben den Clown. Baeren sehen wir nun taeglich. Das Essen, ja alles, was fuer Baeren interessant riecht, dazu zaehlt auch Zahnpaste und Waschmittel, muss an anderer Stelle sicher platziert sein. Das bedeutet staendiges Umpacken der Taschen fuer mich, meistens stellen wir die „interessanten“ Dinge in die Rueckwand baerensicherer Muellcontainer. Einmal nur haenge ich diese Sachen im Baum auf. Ich war ja skeptisch, ob nicht der Baer, vom Geruch angezogen, womoeglich brav bis zum Tagesanbruch darunter sitzen wuerde, doch ist’s eine sichere Erfindung, denn der Wind traegt den Geruch durch die Hoehe davon und Baer spaziert nichtsahnend darunter hinweg.
In Kitwanga erinnert eine kleine hoelzerne Basilika an die ehemaligen russischen Siedler. Ein paar Kilometer weiter, gibt es ein Indianerdorf mit Totempfaehlen. Man liest diese von unten nach oben, sie fungieren als Familienwappen deren Tiersymbole die Eigenschaften einzelner Klanmitglieder hervorheben. Die Bewohner sind sehr freundlich, gerade besucht sie ein engagiertes Paerchen wie aller drei Wochen in einem alten Schulbus voller Buecher zum Verschenken. Es sind „trockene“ Kommunen, in den weit auseinanderliegenden Lebensmittelgeschaeften wird kein Alkohol verkauft nicht mal Bier, ein bischen streng fuer Mineralien ausschwitzende Radfahrer. Wir haben uns fuer etwa fuenf Tagesetappen mit Essen eingedeckt, da unser Cassiar-Highway wenig besiedelt ist. Ich treffe auf zwei Jaeger aus den USA. Zehn Meter neben ihrem Pick-up mit Quad auf dem Anhaenger, das Gewehr geschultert erklaert mir der eine, sie wuerden hier nicht ohne Schusswaffen herumlaufen, gerade heute Morgen haetten sie zwei Grizzlybaeren neben der Strasse gesehen. Nun kann ich mir deswegen aber kein Gewehr zulegen, ich finde es auch albern. So wie ich Tiere kennengelernt habe, wollen sie alle ihre Ruhe vor der Spezies Mensch haben. Tiere sind doch nicht boese, von Tieren kann man lernen! Es gibt sogar psychologische Behandlungsmethoden, bei denen der beruhigende Einfluss von Haustieren zu Hilfe gezogen wird. Hat man eine Schusswaffe, so kann man einem Tier schlecht damit drohen, es zeigt sich keine Alternative - man zielt und drueckt ab.
Fuer diesen Tag fahre ich hier im dichten Wald dann mit meinem Baerengloeckchen, das ich an der Pedale befestigt habe. Leider bekommt man so gar kein Wild zu sehen und das war ja eigentlich einer der Gruende, Kanada zu beraden. So wird sie bald abmontiert und bis auf weiteres in der Tasche verstaut. Es bleibt dafuer der leichte Nervenkitzel, selber ueberrascht zu werden. Aber aus der Entfernung, wie wir sie sehen, sind sie tapsige Teddybaeren mit drolligen Bewegungen. Anders, als auf Vancouver Island verschwinden sie hier auch ins Unterholz, wenn man sich beispielsweise durch Haendeklatschen bemerkbar macht.
Einmal kurz vor einem Rastplatz, wo Miriam und Philippe warten, tritt keine fuenfzig Meter vor mir ein recht grosser Schwarzbaer aus dem Wald und schlendert zufrieden grinsend ueber die Schotterstrasse, schaut nicht nach links noch rechts, waehrend ich bergab ziemlich schnell heranrolle. Das waere mal wieder DAS Foto geworden! Spaetestens seitdem habe ich eine sympathische Meinung von Meister Petz.
Nach einem unerwartet langen Tag komme ich abends zum naechsten Campingplatz, wo M&P schon beim Essen sind. Wie machen die das bloss? Jedenfalls habe ich den ganzen Tag nicht gesprochen, so brauch ich immer ein paar Minuten, um mich zu resozialisieren, ist doch ganz normal! Die beiden schauen mich erschrocken an, nebendran grinst einer die ganze Zeit vor seinem Wohnmobil sitzend, bis ich feststelle, er versteht meine Sprache. Dann gibt er mir sein letztes Bier, und jeder weiss, dass sich so Freunde zu erkennen geben! Martin kommt aus Oesterreich und verpulfert, wie es Koechen eigen ist, sein sauer verdientes Geld in kuerzester Zeit an diesem teuer gemieteten Wohnmobil. Er ist sicher der Einzigste hier in Kanada oder weltweit, der gerade allein mit so einem Luxusmobil herumfaehrt.
Am naechsten Tag kutschiert er uns zu einem Gletscherfeld, abends grillen wir unter seiner kundigen Anleitung. Er spielt ziemlich gut Mundharmonika und zum Abschied schenkt er mir sogar eine aus seiner Sammlung. Einmal mehr wuensche ich mir, dass man sich wiedersehen moege!

Manchmal werde ich beim raden jaeh aus den Gedanken geschreckt, wenn im Unterholz ploetzlich Aeste knacken, die gewichtige Tiere verraten. Dann kommt ein „Hou, hou“ aus meiner Kehle, um mich und Meister Petz dort zu beruhigen. Dreimal hoere ich im Zelt waehrend der Einschlafphase ein graessliches Schnauben, bin entsetzt ueber die Naehe des vermeintlichen Ungetuems, bis ich beim letzten Male feststelle, es handle sich dabei um mein eigenes Schnarchen, welches man vermeidet, indem man sich auf die Seite dreht, auf die rechte, um das Herz zu entlasten. Ich habe mich hierbei also mal wieder sprichwoertlich vor mir selbst erschrocken! Baeren sollen ja ausserdem eher hundeaehnlich bellen, als infernalisch zu schnauben.

So wenig wie hier passiert, sind die Leute in den Siedlungen immer sehr erfreut ueber die Abwechslung unseres Auftritts. Indianermaedchen fangen dann zutraulich zu plaudern an, es sprudeln Geschichten aus ihnen heraus gleich auftauenden Fluessen, denen sie das Eis und die Biberbauten zerschlagen, um endlich den langen Winter zu vertreiben. Erstmalig denke ich, wie gut es sei, dass sie hier wenigstens Satellitenfernsehen haben. Eine Phillipinin, die ihr deutscher Mann die Arbeitswoche ueber mit fuenf Kindern und einem Jadeschmuckgeschaeft alleine laesst, um woanders Kipplaster zu fahren, alles nur, da er sich in dieser Einoede erschwinglich ein Eigenheim bauen will, anstatt an die schulische Zukunft seiner Kinder zu denken und daran, dass sie neben Familie eben auch andere Freundschaften braeuchten, plaudert bereitwillig ueber die groesste Jademine der Welt, die hier hundert Meilen westlich nur mit Hubschraubern und Supertrucks zu erreichen ist. Kein Schild weisst darauf hin, der eigentliche Reichtum Kanadas wird dezent geheimgehalten. Da gibt es Goldvorkommen, Diamantenminen und Oelfelder, aber als Tourist faehrt man durch schier endlose Waelder und Flusslandschaften, ist davon schon ueberaus beeindruckt und ahnt nicht, was hier sonst noch passiert.
Ein paar Moose sichte ich, die nordamerikanische Elchart, wie sie auf kleinen Lichtungen stehen, bis sie erschrocken ueber meine lautloses Herankommen wieder im Dickicht verschwinden. Voegel schlagen meist vorher schon Alarm fuer den Rest des Tierreiches. Halten Tiere etwa Freundschaft untereinander, alles was kraeucht und flaeucht, sich zu schuetzen vor der „Ent-Art“-Mensch?

Auf dem Alaska-Highway ist die Ruhe und unmittelbare Naehe der Wildnis dann dahin. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie als Piste eilig von den Amis angelegt, um den strategisch wichtigen Stuetzpunkt der Exklave Alaska zu sichern, nachdem die Japaner Dutch Harbor auf den Aleuten bombardierten. Auch versorgte man auf diesem Wege auf Stalins offenherzigen Hilferuf die damalige von Deutschland ueberraschte Sowjetunion die erste Zeit mit Flugzeugen und Panzern, um den Feind zu bremsen. Die breite Schneise beschwert uns tagelang kalten Gegenwind, oft denke ich dann, dass Regen doch besser zu ertragen sei, als gegen den Wind zu treten.
Einmal entdecke ich am Morgen keine 15 Meter entfernt einen stattlichen Schwarzbaeren am Waldsaum, und mit dem rueckendeckenden Verkehr wage ich dann doch einmal, ihm in die Augen zu sehen. Ein prickelndes Gefuehl ist es, wie wir uns anschauen. Ziemlich hilflos steht er dort auf seinen Vieren und scheint mir zu sagen: “Ich will doch nur hinueber, auf die andere Seite, aber das wird wohl nie was bei den vielen Eisenungeheuern.“ Ein paar Tage vorher kam es mir in den Sinn, wie stumm und umbarherzig so ein Auto doch aussieht, nichts verraet eine Mimik, nichts weist auf eine Seele, die dahinter sitzt. So also muss es fuer ein Tier sein – einfach etwas Unheimliches!
Whitehorse ist eher beschaulich klein, aber dennoch die groesste Stadt und Hauptstadt des Yukon-Territorys. Sie liegt am Ufer des schoenen Yukons, der ab hier keine Katarakte weiter aufweist und somit leicht befahrbar wird.
Der DHL-Mann bringt mir meinen so vermissten Pass vorbei, doch fehlt ihm - das russische Visa, statt dessen ist eine vervielfaeltigte, unsignierte Nachricht des Konsulats beigefuegt, man bearbeite solcherlei Vorgaenge nicht mehr per Post, sondern nur noch ueber Boten, Reisebuero oder bei persoenlichem Erscheinen. Ich bin erstmal bedient, Sasha rudert fuer mich rum und verweist mich schliesslich an eine Bonner Agentur. Zur Nachtstunde rufe ich dort an, sie verlangen weniger Dokumente dafuer aber viel mehr Geld. Mit etwa 500 Euro ist es mit Abstand das teuerste Visum der Reise, aber was bleibt mir anderes uebrig? Seit Reisebeginn freue ich mich schliesslich schon auf dieses Land. Ein halbes Jahr wuerde mir wahrscheinlich fuer meine Strecke genuegen, aber da man dem Wunsch eines Einreisedatums nicht nachkommt, keine Visa im Voraus ausgestellt werden, muss ich ein ganzes Jahr beantragen.
Mit Miriam und Philippe gehe ich zu einem Abendessen bei Larry und seiner Frau, beide indianischer Herkunft, die wir unterwegs schon trafen. Sie erzaehlen uns die lange, traurige Geschichte, die den Indianern im nach aussen hin so untadeligen Kanada ueber knapp zwei Jahrhunderte widerfuhr. So wurden bis in die sechziger Jahre gesetzlich verankert, die Indianerkinder ab fuenf Jahren in Internate geschickt, wo sie fern von familiaerer Liebe eines Kindes Ewigkeit lang psychische und physische Gewalt erlitten, mit dem Ziel, sie „umzuerziehen“, sie fuer die weisse Gesellschaft nuetzlich zu machen. Fragt sich also mancher Besucher, so Larry, warum die Indianer haeufig einen verwahrlosten Eindruck bei ihm hinterlassen, so sei das auf die unheilbar verletzte Kinderseele dieser Jahre zurueckzufuehren. Die Regierung versucht nun, sie finanziell zu entschaedigen, stellt ihnen Haeuser und Pensionen - ein sicheres Polster zur Verfuegung, damit sie sich ihrer langen Traditionen wieder erinnern moegen. – Wo immer der Weisse auftauchte, meinte er, die Angestammten erziehen zu muessen, wollte sie belehren doch produktiv zu sein, dabei beweisen die Ureinwohner , dass es nichts mit Faulheit zu tun hat, wenn man durch die Riten der Alten seinen Platz in der Welt zugewiesen bekommt, im Einklang mit der Natur sich um Essen und Unterkunft kuemmert und absichtlich die Seele baumeln laesst - eine Kunst fuer sich, dass man die Welt in sich aufnehme.

Die WM hat in Deutschland angefangen, mit Dieter gehe ich morgens in eine Bar, wo wir den Wirt bitten, uns das Eroeffnungsspiel via Satellit ansehen zu duerfen. Die Kanadier interessiert das ja wenig, wenn es nach ihm ginge, so erklaert uns dort einer, wuerde er saemtliche Fussballfelder in Eisflaechen verwandeln, um darauf Hockey zu spielen.

Meinen Pass habe ich wieder losgeschickt. Was mache ich nur in den naechsten zwei bis drei Wochen, waehrend mir der kostbare kurze Sommer der noerdlichen Hemisphaere davonlaeuft? Ich entschliesse mich, ein paar hundert Kilometer mit dem Bus zurueckzufahren, dort freut sich jemand auf mich und ausserdem kann ich noch etwas arbeiten. Nach zwei Wochen bekomme ich dann von den Betreibern der Wirtschaft einen Geizlohn fuer die Zementierarbeiten ausgehaendigt, ich haette vorher wohl besser nach dem Lohn fragen sollen, als mich auf ihre Zufriedenheit ueber meine Arbeit zu verlassen. Als Deutscher sehe ich mich im Ausland ja immer gezwungen, den Ruf von Qualitaetsarbeit gerecht zu werden. Nun stoere ich mich aber nicht weiter daran, der Hauptgrund hier zu sein, war ja ein anderer, mit schlechtem Gewissen brauch ich mich nicht herumzuplagen.
Der Pass schafft es dann gluecklich zu mir zurueck, diesmal mit dem ersehnten Visum, geplatzte Felge und Nabenkoerper des Hinterrades tausche ich noch aus, aber schwer faellt es mir trotzdem, mich in eine neue Richtung zu entfernen. Auf dem nahen Zeltplatz finde ich den lieben Franzosen Gerard wieder, den ich schon in Seattle traf. Bis heute schreibe ich mich mit ihm. Ansonsten bin ich ja bald gaenzlich entbunden an Briefkorrespondenz mit den alten, fast moechte ich sagen – ueberalterten Freundschaften der letzten Dekade. Man denke oft an mich, schreibt man mir, falls man sich des Geburtstagsdatums wegen verpflichtet fuehlt, mir dagegen entlockt es danach aber doch wieder nur ein muedes Gaehnen, bevor ich noch Vorwuerfe in diese Sprachlosigkeit einbringe. Dafuer zeigen sich neue Freunde der Reise, mit denen ich in fuersorglicher Brieffreundschaft stehe. Spaetestens jetzt, unerkannter Leser, geduldiges Jahrbuch, frage Dich nicht mehr, warum es mir immer schwerer faellt, mit Herz einen Bericht in meiner Muttersprache zu verfassen.

Miriam und Philippe sind laengst weitergefahren, aus Versehen treffe ich unterwegs auf ein anderes Radpaerchen, auf Sean und Ami aus Kanada. Kurz sah ich sie schon im Hostel, aber dort wechselten wir kein Wort. Und wieder passiert es, dass wir taeglich die gleichen Entfernungen auf dem Klondike-Highway nach Dawson zuruecklegen, uns spaetestens abends wieder treffen. Ich lerne an diesen „Zufaellen“, dass die Vorteile als Paerchen bei einer Langreise ( vor allem, wenn sie wie bei mir laenger als geplant ist ) ueberwiegen. Nun hat ja alle Zeit seine Anschauungen und eine neue Zeit birgt eben auch neue Ansichten und Einsichten. Die beiden machen mir viel Freude, Sean besteht darauf, lustiger als meine Vorgaenger zu sein, weil er tanzen koenne und stampft dazu wie ein dressierter Baer. Mehrmals fahren wir am Yukon entlang, der jedesmal vertrauter wird. Mittlerweile ist es ein populaerer Sport fuer viele Besucher geworden, den Fluss von Whitehorse nach Dawson mit dem Kajak hinunterzupaddeln. Die Japaner bringen sich dazu ihre eigenen Faltboote mit, manche wollen noch quer durch Alaska bis zur Muendung in die Beringsee. Das ist dann ein richtiges Abenteuer, zu dem unbedingt die Angelausruestung gehoert. Je nach Saison wird der Fischfang von Teich-und Regenbogenforelle erlaubt, natuerlich geht man auf Lachse, der schmackhafteste Fisch dieser Gegend ist aber die Arktische Aesche.
Die willkommenen Campingplaetze haben hier meist nur eine „honesty-box“ zur Gebuehrenerstattung, der Ranger kommt einmal am Tag vorbei, dreht seine Runde und leert den Kasten. Wir Radfahrer sind so ehrlich und bezahlen nicht, dafuer fahren hier genug Wohnmobile herum, die viel Strom und Wasser verschleudern.

Kommt man dann nach Dawson, bemerkt man vielleicht etwa elf Kilometer vorher schon die Berge von Flussgestein zu beiden Seiten, welches aus der Zeit des grossen Goldrausches Ende des 19ten Jahrhunderts stammt, als man den Klondike-Fluss hier kurz vor seiner Muendung in den Yukon foermlich nach Goldgestein ausgrub. Rauhes und ungesundes Leben nahmen Zehntausende damals in kauf, lebten ein halbes Jahr in Zelten neben ihrem erworbenen Goldfundort, bis sie der lange Winter zwang, in feste Behausungen umzuziehen oder nach Whitehorse zurueckschifften. Fuer ein paar Jahre war Dawson mit 30000 Einwohnern die groesste Stadt noerdlich von San Francisco. Auch Jack London liess sich hier fuer drei Jahre in einem Blockhaus nieder, fand wenig Gold und viel Inspiration fuer seine Geschichten.
Man bekommt eine Vorstellung davon, welche Macht die Jagd nach dem Gold ueber einen ausueben kann. Nur wenige wurden wirklich reich, vor allem das Vergnuegungsgewerbe florierte, die Goldgraeber hatten nach entbehrungsreichen Wochen in der Einsamkeit auf ihren Stadtbesuchen Saeckchen voller Goldnuggets dabei und warfen damit foermlich herum, die Kraemer fuehrten lukrative Geschaefte, mussten doch die Lebensmittel von weit herangeschifft werden.
Dawson ist ein huebsches Westernstaedtchen, so gut wie alle Haeuser sind aus Holz gebaut, es gibt kein grosses Einkaufszentrum, man wehrt sich dagegen, selbst eine Bruecke ueber den Yukon, welche die Amerikaner bezahlen wuerden, will man nicht, statt dessen verbindet einen Faehre das andere Ufer und ueber den Winter baut man eine Eisbruecke.
Wir bleiben auf dem Campingplatz auf der stadtabgewandten Flussseite, dessen Besitzer ein Deutscher ist. Fuenfzehn Jahre fuhr er gemaechlich 120.000 Kilometer auf seinem Rad durch die Welt, darueber er nun endlich mal ein Buch schreiben will. Deutsprachige Reisebuecher findet er meist langweilig, englische dagegen mit der gewissen Prise Humor erfrischend. Ich bin gespannt darauf, denn was ich bei allen bisher gelesenen Zusammenfassungen Langzeitreisender vermisse, ist eine wuerzige Prise an Selbstkritik. Beim staunen wollenden Durschnittsleser will man doch keine Zweifel an dessen Traeumen aufkommen lassen, man will ja ein tadelloses Bild, ein Produkt verkaufen!
Gerne hoere ich hier den zwei Haralds, auf Kajakurlaub zu, die mich in ihrer feinen belesenen Art fuer einige Zeit still sehnsuechtig an die Seite Deutschlands erinnern, die ich doch sehr vermisse.

Auf dem „Top Of The World Highway“ bin ich dann nach den vielen netten Bekanntschaften wieder alleine. Ein Fuchs begenet mir, einem Stachelschwein laufe ich hinterher, abends zelte ich in absoluter Stille und denke so kurz vor der US-Grenze an meine schoenen Wochen in Kanada zurueck.
Der schwarze Zoellner laesst mich dann fuer drei Monate problemlos ins Land. Hungrig finde ich endlich einen ersten Imbiss, dessen Besitzer mit Bierdose in der Hand vor seinem Laden sitzt, aus dem laute Rockmusik droent. Er legt ein paar abgepackte Hamburger in die Microwelle und schenkt mir Bier dazu. Langsam mag ich ihn, waehrend vereinzelt Amitouristen ankommen, typisch aufgesetzt laecheln ueber die hier gebotene Situation und sich schnell wieder verkruemeln, ohne ihr Geld losgeworden zu sein. Ich frage ihn nach seiner Familie, er fuehrt mich hinter den Ladentisch und zeigt sie mir – auf einem Foto. Sitzengelassen hat ihn die Frau, seine Toechter hat sie mitgenommen. Irgendwann muss ich los, meine Beine werden schon schwer, er breitet die Arme zum Abschied aus und fordert mit geschlossenen Augen: “Hug!“ Den bekommt er dann auch und weiter geht es auf steiniger Piste, steil bergauf und bergab. Auch hier zog der Goldrausch die Menschen vom Sueden an, selbst Fairbanks, die Hauptstadt Alaskas entstand nach einem Goldfund. Manche Goldmine laeuft jetzt noch mit umfangreichen Maschinenpark, wofuer die Amis ja beruehmt sind. Daran erkennt man, dass sich der ganze Aufwand anscheinend irgendwie rechnen muss.
Die Campingplaetze sind eifrig von Rentnern, welche die Saison hier in ihrem Wohnmobil verbringen, bewacht. So komme ich nicht um acht bis zwoelf Dollar herum, dafuer mir niemand mein Zelt aufstellt, es gibt auch keine Duschen oder Trinkwasser, selbst den Muell muss man wieder mitnehmen.
Einen Tag fahre ich durch einen Friedhof aus abgebrannten Wald. Schilder erzaehlen, wie solche Braende oft monatelang andauern, bis sie schliesslich der erste Schnee erstickt. Dazu hat so ein Nadelbaum auch nur geringes Wachstum den kurzen arktischen Sommer ueber. Ich entdecke einen Schwelbrand, den man sofort melden sollte, wie ich’s in Kanada schon erlebte. Bald zuengeln Flammen hoeher und lichter, mit der Mimik des Telefonierens versuche ich entgegenkommende Autofahrer auf den Brand aufmerksam zu machen, statt dessen bekomme ich wieder nur dieses ueberguetige allwissende Laecheln aus ueberspielter Unsicherheit geschenkt. Ein Hollaenderpaerchen in meinem Alter pausiert neben ihrem Mietwagen, ich zeige in die Brandrichtung, ob sie kein Handy haetten, um die Rangerstation zu benachrichtigen, statt dessen meint der Typ, als lebte er schon zwei Ewigkeiten hier, sie haetten ja soviel Holz, da fiele so ein Brand gar nicht ins Gewicht. Vor den Kopf geschlagen lasse ich ihn zurueck, denke mir spaeter, als ich die Fassung ueber soviel Dumpfheit wiedergewinne, eigentlich gaebe es ja auch soviele Menschen, da fallen ein paar weniger – gar nicht weiter auf!
Ansonsten sind die Alaskaner, ausser im Grossraum von Anchorage um einiges freundlicher, als im sogenannten „lower 48“, was den Breitengrad entlang der suedlichen kanadischen Grenze zur eigentlichen Usa bezeichnet. Man draengt darauf, anderes zu gelten, die meisten zog es ja neben steuerlichen Verguenstigungen auch hierher, weil man hier noch etwas von einer Gemeinschaft verspuere.
Seit der Zeit mit Sean und Ami hoere ich in den verkehrsarmen Gegenden auch wieder viel Musik beim Radfahren, das ist ja auch Nahrung, dadurch erscheinen die Berge flacher, die Landschaft wird schoener und meine Laune ist bestaendig gut.
Wieder auf dem Alaska-Highway staune ich im Supermarkt ueber russische Produkte aus dem fernen Sankt Petersburg, man erklaert mir, es gaebe hier eine alte russische Kommune. Dann bekomme ich dort auch noch einiges Laecheln geschenkt, der Art, welches man zeitlebens nicht vergisst, keine Frage, solch ein russisches aus strahlenden Blauaugen und immer mehr freue ich mich auf dieses Land.
Seit Mitte des 18ten Jahrhunderts, nachdem Vitus Bering und Aleksej Tschirikow es auf ihrer Expedition von Kamtschatka als Kolonie fuer die russische Krone beanspruchten, fand ja ein Handel meist ueber Seeotterpelze mit den Einheimischen statt. Bald schon verlor man das Interesse, die russischen Pelzjaeger hatten in groesster Ignoranz diese Tiere, wie auch schon vorher im weiten Sibirien fast ausgerottet. Der deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller fand als wissenschaftlicher Begleiter der Expedition die nach ihm benannte Stellersche Seekuh, welches auch die Pelzhaendler als leicht zu erbeutende Nahrungsquelle fuer sich entdeckten. Sie waren so wahllos im Abschlachten, dass dieses riesige Tier bereits 27 Jahre nach seiner Entdeckung als ausgerottet galt. Am 30sten Maerz 1867 verkaufte Zar Alexander der Zweite fuer 7,2 Millionen Dollar Russisch-Alaska an die USA, da er die Staatskasse vom Krimkrieg aufzufrischen gedachte.



Zurueck im Land der Waffennarren faellt mir auf, wie fast jedes Strassenschild Beulen oder Loecher von Schiessuebungen aufweist. Als ich einmal abends zelten will, zischen ein paar Querschlaeger in der Naehe vorbei. Ich entdecke den Schuetzen mit Pumpgun und Pistole, einen Buben dem der erste Flaum auf der Oberlippe steht, dieser meint ganz ernsthaft zu mir, es sei hier „rifle-area“. Soviel aelter bin ich schon und kann mir deshalb sicher sein, nie so ein Langweiler wie er zu werden!
Die schneebedeckten Berge des Alaska-Gebirges zeigen sich majestaetisch in der Ferne, bei dieser Schoenheit will man gar nicht wahrhaben, dass hier in der Naehe atomare Langstreckenraketen stationiert sind.
In der Gegend um Fairbanks betreibt man sogar etwas Landwirtschaft. Gerste, Hafer, Weizen und Kartoffeln baut man an, die Saison ist zwar kurz, aber die langen Lichttage des Sommers und intensive Duengung lassen alles gedeihen.
Im Durchgangsort North-Pole steht dann ein etwa acht Meter grosser Kinderschreck von Santa Claus an der Strasse, weil der Amiweihnachtsmann ja am Nordpol wohnen soll. (Don't you get it? Isn't it funny? Hahaha?) Fairbanks ist dann vor allen ein riesiger Militaerstuetspunkt. Anreiz Soldat zu sein, sind ja viele soziale Verguenstigungen, auch die hiesige Universitaet hat grossen Andrang, da sie als eine der wenigen keine Studiengebuehren erhebt.
Ich besuche eine Christenfamilie, die mich am Vorabend am Fluss beim Zelten entdeckten und mich einluden, vorbeizukommen. Die haben sogar ein Schild mit meinem Namen neben den Briefkasten fuer mich gemalt, das entdecke ich aber erst beim Weiterfahren. Drinnen herrscht absolutes Chaos, alles ist zugemuellt, nur die Mutter ist da. Sie brueht mir aber einen guten Bohnenkaffee und sagt staendig „God bless“ zu allem, hat keine Meinung, als ‚Jesus wird's schon richten’.
Vor Dawson traf ich den dicken Stan, der meinte, ich koenne bei ihm zelten, zu dem fahre ich schnell weiter. Endlich habe ich sein Haus in einer huebschen Waldsiedlung ausgemacht, irgendwann kommt er dann raus, fragt mir im Beisein eines Freundes erstmal Loecher in den Bauch, dass ich kurz davor bin, wieder zu verschwinden. Aber dann bringt er mich bedaechtig zu einem abseits stehenden Bungalow, den ich ueberraschend beziehen darf. Dieses Haeuschen ist zwischen beruhigend rauschenden Baeumen genau in ein Zeitloch gebaut, so dass ich zehn Stunden schlafe kann, ohne mich dabei anzustrengen.
Stan und seine Frau Kathy zeigen mir die Stadt, laden mich zum Essen ein, wir besuchen eine Nutztierausstellung und einen riesigen Goldtagebau. Mein Rad packe ich um, nur das Noetigste will ich fuer meine Fahrt zum Eismeer mitnehmen. Etwa fuenf Kilo Verpflegung kaufe ich – eingestehend: bei Wal-Mart. Die sind leider die groessten Preisdruecker.

Dann rolle ich endlich los. Die ersten 130 Kilometer sind gut asphaltiert, bis man auf den Dalton-Highway kommt, der Versorgungspiste zu den Oelfeldern der Prudhoe Bay am Eismeer. Diese laeuft parallel entlang der Pipeline welche weiter bis nach Sueden in den eisfreien Hafen von Valdez fuehrt, von wo das Oel und Erdgas dann in Tankern den Weg nach „lower 48“ nimmt. Das grosse 1968 entdeckte Oelfeld ist laengst ausgebeutet, heute zapft man viele kleine Oelfelder entlang der Kueste an, nachdem man im Winter, der Hochsaison in der Oelfoerderung, mit schweren Maschinen auf dem gefrorenen Boden der Tundra sucht. Dann koennen auch die Trucks auf eigens angelegten Eisstrassen Baumateriel heranfahren. Vorher hatte man noch vorsorglich den Inuits, den Indianern entlang der Arktis – ich musste mich aufklaeren lassen, „Eskimo“ sei ein abwertendes Wort – dieses Territorium fuer eine Milliarde Dollar abgekauft, dabei machten sie sich bis dahin gar nichts aus Geld, sondern wollten wie alle Ureinwohner ihre Eigenstaendigkeit im ueberlieferten Lebensstil erhalten. Die Pipeline durch das Natuerschutzgebiet war eigentlich fuer zwanzig Jahre ausgelegt, nun ist sie schon 32 Jahre in Betrieb von „BP“ und „Conoco Phillips“ und korrodierende Rohre beduerfen immer mehr Wartung. Man versprach jaber, „nach Beendigung der Foerderung“ die Pipeline wieder abzubauen...
Die Tage werden jetzt zwar langsam wieder kuerzer, aber noch gibt es etwa 23 Stunden Tageslicht, die ich in langen Radtagen nutze, um den Proviant einzuteilen. Oft sitze ich bis zehn Uhr abends im Sattel, um mein Tagespensum zu erfuellen. Dier ersten Tage habe ich Dauerregen, aber zumindest ertrinkt die Piste nicht im Wasser. Am Polarkreis, dem Ausflugsziel der meisten Touristen hoere ich dann eine aeltere Amerikanerin auf ihrer Bustour aus mir unverstaendlichen Gruenden zu ihren Bekannten rufen, ich wolle ja wirklich Alaska kennen lernen, aber haette nicht mal zehn Dollar fuer den Campingplatz. Solche bornierte Arroganz bestaetigt immer wieder meine Meinung von den allermeisten Amis ( die noch nie das Ausland betraten ). Da wird nicht gefragt, da wird hart und unbarmherzig nach aeusserem Erscheinen abgerichtet. Man will gar nichts dazulernen, man ist ja Ami, der sowieso alles besser weiss, macht und kann!
Manche Touristen schiessen wieder Fotos von mir, als sei ich eine Zirkusattraktion, meist ohne mich auch nur anzusprechen oder aber peinlich sinnlos im Nieselregen zu fragen, ob ich denn Wasser braeuchte, anstatt nicht so mit ihren Schokoriegeln zu geizen. Uebrigens habe ich die Erfahrung gemacht, dass beispielsweise Voegel, wenn man sie anspricht, eher fuer ein schoenes Foto sitzenbleiben, als wenn man nur stumm und mit Hintergedanken die Kamera auspackt.

Die Strecke fuehrt weiter durch Nadelwaelder ueber recht huegeliges Gebiet. Ein Wolf, so verlautet ein Anschlag, habe ein paar Tage zuvor eine „Joggerin“ fruehmorgens angefallen. Aber wer joggt hier schon, frage man sich? Die Nachricht sollte besser lauten, ein Wolf fuehlte sich in seinem Jagdtrieb geweckt, als eine erschrockene Besucherin vor ihm davonlaufen wollte. Deshalb, so der Anschlag weiter, sollte man ueber Nacht in seinem Campervan bleiben. Zeltende Radfahrer leben demnach gefaehrlich.
Die Muecken werden hier im hohen Norden streckenweise immer mehr ein Problem. Sie sind so versessen auf mein Blut, scheuen nicht, ihr bischen Leben fuer die Brutpflege zu riskieren, lassen sich ohne Fluchtwege zu ersinnen, erschlagen, knien sich foermlich hin beim Beissen, wie ich’s vorher noch nie sah.
Jetzt wird es immer einsamer, zusehends entferne ich mich siedelbaren Gebieten. Trost ist mir immer, dass ich nie der Erste bin. Die Raben werden wieder zu Weggefaehrten, ich gruesse sie, wennimmer sie sich mir bemerkbar machen. Oft fliegen sie ein Stueck voraus, setzen sich auf die naechste Baumkrone und beobachten mich interessiert. In kleinen Gruppen entdecke ich sie manchmal, wie sie huepfend herumkrakelen. Sie sind wirklich ganz besondere Tiere, die reinsten Spassvoegel und werden von den Indianern neben Killerwal, Baer und Wolf verehrt. Ein Rabe soll in etwa ueber die Intelligenz eines fuenfjaehrigen Kindes verfuegen, nach welchen mir schleierhaften Kriterien man dabei auch geht.
Im letzten Ort, einem grossen Truckstop auf halber Strecke, kaufe ich mir fuer die restlichen 350 Kilometer nochmal Brot und Kaese, Wasser filtere ich unterwegs in einem der unzaehligen Baeche und Fluesse. Von nun an begegnen mir nur noch Versorgungstrucks, von denen mich die allermeisten vorsichtig passieren, ein paar Motorradfahrer gibt es, welche ausschliesslich auf nagelneuen BMW-Enduros unterwegs sind, die 1800 Kilometer Fairbanks-Deadhorse und zurueck in zwei bis drei Tagen abreissen.
Dan gibt es noch ein paar Spezies der Gattung „Jaeger“ mit ihren Gelaendewagen, die anstatt mit Gewehr hier mit High-Tech-Bogen auf Karibu-Jagd gehen, da ja sonst die zur Haelfte ueberirdisch angelegte Pipeline durch verirrte Kugeln beschaedigt werden koennte. Ein paar Karibus habe ich hinter dem letzten Pass der Brooks Range, von wo die Landschaft in die weite, baumlose Tundra uebergeht, dann auch schon voller Freude gesichtet. Trunken vor Sommerglueck traben sie herum, trauen sich bis auf wenige Meter an mich heran. Da frage ich mich dann, was es fuer Jagdkunst erfordert, so ein neugieriges, harmloses Tier zu erlegen. Das sei dann der Dank fuer seine Vertrauensseeligkeit. Richard, ein netter Hollaender mit altem Auto unterwegs nach Panama, meint dazu erklaerend gehoert zu haben, dass so ein Jaeger dabei haeufig eine Errektion bekommt, die er sonst wohl nicht erlebt.  Fairerweise muss ich erwaehnen, wie mich zwei Bogenschuetzen eines spaeten Abend vor einer Grizzly-Mama mit zwei Jungen warnen, die kurz neben der Strecke an den Eingeweiden eines erlegten Karibus fressen sollen. Sie bieten mir an, mich ueber dieses Stueck mitzunehmen. Uneinsichtig hinter einem Huegel sitzen die Baeren, ich bin mir nicht sicher, wer sich mehr von uns erschrocken haette. Es waere ein denkbar unpassender Moment gewesen, die beiden Jaeger nach ihren Gefuehlen zu fragen.  
Die bemerkenswerteste Begegnung habe ich mit Fabrice, einem Westschweizer, der vor zweieinhalb Jahren von Mexiko-Stadt aus zu einem Fussmarsch nach Prudhoe Bay aufbrach. In den USA legte er sich ein Huendchen als Begleitung zu, welches aber am Polarkreis wunde Fuesse von der gelaugten Piste bekam und nicht mehr weiterkonnte. Die Trucker rissen sich foermlich darum, es zum Tierarzt nach Fairbanks zu bringen. Eine Frau haette es jetzt bei sich zu Hause unter ihrer Obhut, erklaert er mir erleichtert, aber traurig. Ihm, der so ganz langsam unterwegs ist, waere schrecklich einsam zumute, gesteht er mir, er freue sich auch auf das baldige Ende der Reise. Erst gestern haette er seinen Fotoapparat verloren, als er auf dem Nebenweg, direkt entlang der Pipeline einen Fluss durchqueren musste. ( In Fairbanks, faellt mir dabei ein, erklaerte eine frei herumlaufende Frau im Radladen dem Besitzer und mir, es sei eine gute Idee diesen Weg zu befahren, anstatt auf der so gefaehrlichen LKW-Piste, ja es sei sogar erwuenscht, da man nun als lebendes Schutzschild die Pipeline vor Terrorangriffen bewahren koenne. ) Waere Fabrice von Mexiko nach Sueden gelaufen, es waere ihm sicher nie einsam geworden!
Die Beschaffenheit der Strecke variiert von verschlammt ueber steinig-fest, bis zu seltsamen knapp einhundert Kilometer langen Experimentierabschnitten aus Asphalt. Die besten Strassen fuer den Permafrostboden bauen aber die Kanadier. Mehrere Lagen losen Untergrunds walzen sie zu einer festen Schicht, die auch nicht durch grosse Temperaturunterschiede aufbrechen kann.  
Es ist Mitte August, als ich in Deadhorse, dem Endziel des privaten Besuchers ankomme. Gleich buche ich mich fuer die naechste Tour durch die Anlagen von Prudhoe Bay, weil man anders nicht ans Eismeer gelangt. Der Bus faehrt an Pumpstationen und riesigen Maschinenparks vorbei, eine eigene Raffinerie deckt den grossen Energiebedarf. In dem weitlaeufigen Gebiet laufen ein paar Karibus umher. Die groesste Sorge der Indianer ist ja das immer weiter expandierende Geflecht aus Pumpstationen und Oelleitungen, welche die vor Baeren und Woelfen sicheren Kalbplaetze der Karibus entlang der Kueste bedrohen. Es gibt sogar ein kleines Krankenhaus, denn zur Saison arbeiten bis zu 3000 Leute - im zweiwoechigem Takt von Anchorage eingeflogen - hier in Prudhoe Bay.
Sieben Grad betraegt die Wassertemperatur; das nur fuer einen Kalifornier und mich obligate Bad im Meer erscheint dann durch die Aufregung waermer als erwartet.
Nach der Tour fahre ich zum zweiten Mal zur Poststelle, denn man sagte mir, die Dame dort waere ueberaus hilfreich in der Vermittlung einer Rueckfahrt. Daran ist nichts uebertrieben. Zuerst wird ein Polaroid-Foto geschossen und an die Wand zu den anderen Zweirad-Reisenden geheftet, wo ich auch Miriam und Philippe wiederentdecke. Anschliessend bringt sie mich rueber in einen Wohncontainer. Dort weist man mir das komplett mit Kirschbaumholz ausgestattete Zimmer des abwesenden Chefs zu – Kirschbaumholz am Eismeer! Da rolle ich dann lieber meine Matraze auf dem Teppichboden aus, als mich in ach so fremden Bett zu betten. Ich dusche, kann meine Sachen von der Waschmaschine waschen lassen, in der Kantine esse ich mit den anderen, an nichts soll es den Arbeitern hier fehlen, so haben sie neben Satellitenfernsehen selbstverstaendlich auch Internet. Waehrend ich gerade am Eismeer in Alaska bin, lese ich, dass mein Radfreund Joachim nach fuenfeinhalb Jahren wohlbehalten seine Reise zu hause in Oesterreich beendet hat (Applaus, Applaus, Applaus!) und mir wird ein wenig wehmuetig, wie alleine fuehle ich mich ploetzlich.
Trotzdem es Sonntag ist, habe ich am naechsten Tag tatsaechlich das Glueck, mit einem netten aelteren Mann im leeren Kerosintruck zurueck nach Fairbanks zu fahren. Einzig muss ich fuer seine Absicherung ein extra aufgesetztes Blatt unterschreiben, ich wolle im Falle eines Unfalls auf Schadensersatzansprueche verzichten. An so etwas haette ich nicht mal im Traum gedacht, naja, es sind halt Amis.
Zehn Tage habe ich fuer die Fahrt zum Eismeer gebraucht, nach knapp 16 Stunden Erzaehlbaer spielen, bin ich dann wieder zurueck in meinem heimeligen Bungalow.
Die Ersatzfelge ist inzwischen eingetroffen, ich pflege Rad und Ausruestung, packe wieder die Taschen nach meiner Logik, schreibe noch ein paar Karten, gaebe ein Paeckchen auf, nach drei weiteren Tagen fahre ich dann Richtung Anchorage los. Weit komme ich jedoch nicht, denn Dauerregen setzt ein, zwei Tage bleibe ich im Zelt in meinem Versteck, lese, schreibe, trinke Regenwasser und rede kein Wort mit mir.
Nichtsahnend komme ich ein paar Tage spaeter hinter einem Huegel in die Tourismusgrube von Denali-Ort.
Hunderte Busse des bekannten robusten Schulbustypes karren von diesem Hotelresourt die Besucher durch den Park. Ein paar junge Saisonarbeiter traf ich schon, sie haetten heuer nicht einmal den Gipfel des hoechsten Berges Nordamerika, dem 6193 Meter hoehen Mount McKinley oder indianisch Denali gesehen, so verregnet sei der Sommer gewesen. Von einem anderen Wohnwagenparkplatz zeigt er sich am naechsten Abend dann doch fuer ein paar Minuten, bevor sich der Himmel wieder zuzieht.
Im Duschhaus des weiter abseits gelegenen Campingplatzes hoere ich unfreiwillig einem Vorstellungsgespraech zu, wonach ein Ami sein Gegenueber nach dessen Herkunft fragt. Aus diesem piepst es dann: „aus Europa“ – sofort ist mir klar, dass solch eine Antwort nur aus dem Mund eines durch seine schulische Geschichtsbildung verschaemten Deutschen juengerer Generation kommen kann, was der Ami dann auch noch herausbekommt. Jeder andere Mensch wuerde zuerst sein Land voller Stolz nennen, bevor er es womoeglich geographisch einordnen muesste. So ganz ohne Rueckgrat aehnelt man dann wohl eher einen Wurm, sei hier hinzugefuegt.
 
Soviel Regen! Aber ich will jetzt nicht mehr abwarten, die Standplaetze werden immer teuer, bis 25 Dollar verlangt man, ohne dass es Duschen gibt oder wenigstens eine Kochgelegenheit, von Ueberdachungen ganz zu schweigen. Obwohl ich ja kein Wohnmobil bin, das zwischen fuenf und fuenfzehn Tonnen wiegt, werden wir hier dann doch wieder alle gleichgemacht. Meist versuche ich entlang eines Waldweges einen Platz zu finden, verbotener Weise, aber da es soviele Verbote gibt, sollte man sie auch brechen („Aufruf zum Ungehorsam“). Es ist nur schwierig ein halbwegs annehmbares Plaetzchen zu finden, da alles so verwaessert ist. Den Kocher stelle ich abends ins nasse Zelt, um es irgendwie trocken zu bekommen. Haende und Fuesse sind vom Stromregen aufgeweicht. Alles ist nass oder hat Feuchtigkeit gezogen, wie soll man’s trocken bekommen ohne Sonne! Wie will man’s wiedergeben, ein Tag in einem Wort, einen Satz fuer eine Woche?
Endlich in Anchorage sehe ich gleich wieder viele Crackjunkies und Alkoholiker herumstehen, Indianer, die in die Stadt gingen, um dort naeher an ihrer Sozialhilfe zu sein.
Der Typ, bei dem ich wohnen sollte, laesst mich im Regen stehen. Waehrend ich warte, kommen zwei Indianer vorbei und reichen mir die Hand, wir stellen uns vor, ich denke, sie werden mich wohl nach Geld anschnorren, statt dessen tanzt der Mann fuer ein paar kostbare Sekunden eine traditionelle Weise, so suess und unschuldig. Mag er auch betrunken gewesen sein, Ureinwohner sind doch alle zarte Naturseelen.  
Da ich unbedingt saemtliche Sachen zum Trocknen ausbreiten muss, ziehe ich in das billigste Hotel fuer 77 Dollar. Ein Brueckenpfeiler wurde vom angestiegenen Fluss weggerissen, lese ich in der Zeitung, unterbrach die Hauptverbindungsroute nach Fairbanks, auf der ich gerade noch fuhr. Auch haette man dort Flutwarnung ausgerufen und einige Leute entlang des Flusses evakuiert. Es sei der regnerischste Sommer seit zwanzig Jahren gewesen. – Die klimatischen Rekorde haeufen sich.  
Anchorage ist, so denke ich, auch die letzte Moeglichkeit, mich praktisch fuer den Winter auszustatten. Ich kaufe mir Ueberschuhe, Ueberhandschuhe, Gesichtsmaske und gefuetterte Radhose, jetzt fuehle ich mich einigermassen geruestet. Aber mit dem vorgeschickten Reifenpaket und einem weiteren Verschleissteilpaket, die hier auf der Post seit Monaten auf mich warten - im Fernen Russland werde ich ganz sicher keine Radlaeden finden - ist das Gesamtgewicht schon wieder ins Bedenkliche gewachsen.
Jetzt moechte ich schnell weg, auf direktesten Wege rueber nach Kamtschatka und weiter nach Magadan.  Fairbanks ist ja ausserdem die Partnerstadt von Magadan, der Stadt an der Kueste des Ochotskischen Meeres. Ich brauche nun keine Reisebueros abzuklappern, denn Sasha hat fuer diese Gegend sowieso die besten Informationen.  Wieder sind es aergerliche Nachrichten. So hat „Alaska Airlines“ diese Verbindungsroute, vorher einmal woechentlich geflogen, seit einigen Monaten eingestellt. Vor Terrorgefahr sperren sie sich in den USA naemlich immer mehr ein, und einmal mehr bin ich bedient, wie man mir als vom Grossteil der Welt verwoehnten Reisenden in diesem Land immer wieder laestige Steine in den Weg legt.
Das Naechstmoegliche wird sein, zurueck nach Seattle zu fliegen, von dort ein paar Tage spaeter nach Seoul mit Anschlussflug nach Vladivostok, wo ich dann auf der Warteliste nach Magadan stehe. Ein kostspieliger Zick-Zack-Kurs, ich sage mir mal wieder, das sei der Preis der Freiheit!
Wenigstens habe ich noch ein paar gute Tage mit Sasha und Arthur, Sean schickt mir noch drei bespielte Minidiscs fuer die Weiterreise.
Als ich eines Nachmittags durch downtown laufe, sehe und hoere ich aus allernaechster Naehe, wie ein Mann vom heranfahrenden Bus zermatscht wird. Der Verursacher, ein Cracky, der ihn, auf dem Gehsteig radelnd, angerempelt hat, faehrt nach zwei Schockminuten einfach weiter. Keiner tritt naeher, alles schaut woanders hin, steht teilnahmslos herum – ich muss endlich weg aus dieser menschlichen Wueste!

Natuerlich ist es wieder Bitten und Geduldsprobe das Rad mit dem vielen Uebergepaeck aufzugeben und hoffentlich in Vladivostok wiederzuerlangen - nach Seattle kam mein Rad schon ohne weitere Entschuldigung einen Tag spaeter an - aber die Korean-Airlines hat einen guten Ruf und ihr Personal ist kooperativ. Unwillig lasse ich dann noch den Spezial-Auslaender-Auscheck von Fingerabdruck und Iris-scan ueber mich ergehen, damit das FBI auch sofort informiert ist, wann sie einen Nicht-Amerikaner ( Was nun: sind wir seit 9/11 nun alle Amerikaner oder war das wieder nur ein Spruch?) als potentielle Gefahr wieder aus der roten Liste streichen kann. Endlich ist die Maschine in der Luft.  -  Good night America!







 

Dass man zehn Stunden bis nach Seoul fliegt, haette ich nicht gedacht. Ich lasse mich in ein kleines Hotel verfrachten, neben dem Fenster haengt ordnungsgemaess ein Tau in einem Glaskasten, mit dem man sich im Notfall hier aus dem vierten Stockwerk abseilen soll.
Bei der Bordkontrolle am naechsten Tag will ich noch schnell meine Wasserflasche wegen den Anti-Terror-Bestimmungen austrinken, aber man sagt mir, das sei nicht noetig, da ich ja nach Russland floege.
Diesmal ist es ein kurzer Flug, am dritten September betrete ich dann endlich russischen Boden.
Waren die paar Stunden in der Flughafenvorstadt von Seoul schon ein Kulturschock -  schwuelwarm das Klima, freundlich reservierte Menschen in dieser High-Tech-Welt, die Haeuserwaende voller Lichtreklame - so ist es erst recht die Ankunft in Artyom, dem Flughafen vom 45 Kilometer entfernten Wladivostok. Keine langen Flugsteige, keine „Duty-Free“-Laeden, man kommt zum Einreiseschalter, dahinter ist gleich der enge Raum der Gepaeckausgabe, durch die naechste Tuer die Kontrollhalle, wo niemand kontrolliert und schon steht man im Freien.

Im Hotel gegenueber soll ich dann mein vorgebuchtes Ticket nach Magadan abholen, tatsaechlich kann ich also am naechsten Tag schon weiterfliegen. Mit einem Sackkarren holpere ich zweimal hin und her, um mein umfangreiches Gepaeck unterzubringen und buche ein Zimmer fuer die Nacht. Natasha betreibt hier im Haus ihr kleines Reisebuero, ich lege nochmal 350 Euro auf den Tisch, somit hat mich diese Flugreise aergerliche 1800 Euro gekostet. Als Langzeitreisender legt man in mancher Hinsicht seine seine herkunftsgepraegten Vorstellungen vom Umgang mit Geld ab, da man ja so gut wie ohne Einnahmen bleibt. Trotzdem koennen das viele Leute unterwegs, wie zu Hause nicht nachvollziehen. Wahrscheinlich sollte ich mich und die Sachen weniger waschen, neben den Haaren auch die Naegel nicht mehr verschneiden, die Zahnbuerste verschenken, bis man mir rein aeusserlich endlich abnimmt, nicht unermesslich reich zu sein. Natasha spricht ein wenig englisch, sie hilft mir, ein Reifenpaket mit anderen technischen Kleinigkeiten, die ich erst spaeter brauchen werde, nach Irkutsk aufzugeben, dann will sie mir noch ihr Staedtchen zeigen. Ich bin schlicht begeistert, alles strahlt vor Menschlichkeit. Hier bin ich richtig! Dass Stalins Plattenbauten ziemlich verwittert aussehen, stoert mich ueberhaupt nicht - alles nur Fassade. Man ist artig und zu Scherzen aufgelegt. Niemand verhaelt sich psychopatisch, wie Millionen Amis, keiner ist verklemmt. Unschuldig unwissend darueber bildet man so eine Gemeinschaft. Die Ordnung im oeffentlichen Leben, der hilfsbereite Umgang miteinander beruhen sicherlich noch auf den 89 Jahren gleichstellend kommunistisch-humaner Erziehung, aber es geht sicherlich viel weiter zurueck. Was ich hier anfange zu entdecken, ist wahrscheinlich das, was man als die russische Seele, des ueber viele Jahrhunderte geknechteten Volkes bezeichnet.
Frisch und unausgeschlafen gehen wir am Morgen zum Flughafen, dort zahle ich dann noch 150 Dollar fuer mein Uebergepaeck, darueber ich mich nicht weiter beklagen will, denn alle werden hier gleich behandelt, es gibt kein freies Handgepaeck, was ich fuer eine intelligente Loesung halte, alles wird gewogen, zwanzig Kilo sind frei.
Die alte Tupolew 154 brummt dann vier Stunden ueber endlose Waelder, den Amur entlang, uebers offene Meer, bis sie wieder die Kueste streift und auf dem fuenfzig Kilometer von Magadan entfernten Flughafen landet. Dort warten auf alle Passagiere Freunde und Verwandte, nur mich erwartet niemand. Abseits stehe ich und beneide sie schlicht, wie herzlich bis traenenreich sie sich begruessen. Bis ich mein Rad zusammengebaut habe, bin ich schliesslich der Letzte am Flugsteig, dann will ich mich spaetnachmittags auf den Weg in die Stadt machen. Aber starker Regen laesst mich wieder umdrehen. Ich frage mit meinen noch aus Ostzeiten im Gedaechtnis verbliebenen Russischbrocken nach einem Hotel. Der naechste Tag zeigt sich genauso verregnet, so lasse ich mein Rad hier, es ist ja bereits die Strasse nach Jakutsk und anstatt den Weg zweimal abzufahren, nehme ich den Bus in die Stadt.

Die Stadt hat eine pechschwarze Vergangenheit. Stalin liess dieses vorher unscheinbare Fischerdoerfchen zu einem Verladebahnhof fuer Verbannte ausbauen. Sie kamen per Schiff von Wladivostok, wo die Transsibirische Bahn endet, mussten von hier aus den langen Marsch in die Gulags der Kolyma, einem grossen Fluss, der sich bis ins Eismeer schlaengelt, antreten. Dort entdeckte man in den Zwanziger Jahren grosse Goldvorkommen und Stalin erfand dann einen billigen Weg, dieses zu foerdern. Er liess in diese Wildnis von den Gefangenen eine Trasse nach Jakutsk bauen, welche den denkwuerdigen Beinamen „Knochenstrasse“ hat. Jeder Meter dieser 2000 Kilometer nach Jakutsk soll ein Menschenleben gekostet haben, in den Sommermonaten brachte man die Toten kurzerhand im Kiesbett ein, die Leichen des Winters konnte man erst bei Tauwetter verscharren. Jedes Dorf der Gegend, das heute noch existiert, sei frueher ein Gulag gewesen. (Die Abkuerzung bedeutet soviel wie Hauptverwaltung der Besserungs-und Arbeitslager. Es handelt sich dabei um das Gegenstueck zu deutschen Konzentrationslagern.) Natuerlich wird den Deutschen auch noch in der fuenften Generation nach dem Krieg nicht gestattet, irgendwelche Vergleiche zum Holocaust anzubringen und jeder Nichtdeutsche darf sich deshalb gluecklich schaetzen, nicht mit solcher Erblast behaftet zu sein. Doch erlaubt mancher sich mittlerweile zwischen Hitler und Stalin zu vergleichen. Beide hatten eine traumatische Kindheit, wurden regelmaessig vom Vater verpruegelt, welches eine verletzliche Kinderseele zum unberechenbaren Monster heranreifen laesst. Selbst Lenin war nicht begeistert, Stalin als seinen Nachfolger zu sehen und warnte kurz vor seinem Tod im sogenannten „Lenin-Testament“ vor Stalins Gewalttaetigkeit. Es kursiert ein Spruch: Waehrend Hitler noch die Messer schliff, war Stalin laengst am Schlachten.  

Etwa 18 Millionen Menschen, die meisten davon Landsleute, sollen in den Gulags ueber die gesamte ehemalige Sowjetunion verteilt, umgekommen sein, verhungert, erfroren, erschossen, erschlagen, erhaengt. Mit System trieb man die Gefangenen so zur Verzweiflung, dass sie sich gegenseitig bespitzelten, denunzierten und umbrachten. Wer in die Gulags der Kolyma kam, oder auch nach Workuta, jenseits des Polarkreises, der konnte alle Hoffnung begraben. Nur ganz wenige kehrten lebend zurueck. Es waren Gefaengnisse ohne Mauern, wohin sollten sie auch fliehen, wie Nahrung finden! Der Winter dauert hier neun Monate, vier Monate davon mit Temperaturen zwischen 50 bis 60 Grad unter Null.  Diejenigen, die es denoch versuchten, wurden von Suchtrupps mit Hunden aufgespuert und kehrten nicht lebend zurueck. Man liess ihre Koerper als Warnung an den Eingaengen liegen. Der Wille war bald gebrochen, viele flehten, Stalin moege sie doch erhoeren, denn sie glaubten bis zum Tod, er wisse davon nichts, verehrten ihn wie ein Idol. Je unmenschlicher, umso wirksamer war die Devise fuer Stalins Staatsterror, Religion verbot er und liess die Priester enhaupten, er versuchte sich am Klassengenozid, wollte die Schicht der Landbevoelkerung ausrotten. Im besetzten Gebiet der Ukraine verhungerten acht Millionen Bauern, darunter drei Millionen Kinder, denen er alles Korn beschlagnahmte. Das Schreckensjahr 1937, der Hoehepunkt der „Grossen Saeuberung“, in welchen Jahren er alle vermeintliche Gegner beseitigen liess, Kinder ihre Eltern, Eltern ihre Kinder denunzieren, die Todesstrafe laut Gesetzesbeschluss schon an Zwoelfjaehrigen vollzogen wird, erlebt sein trauriges Jubileum, doch mit der Aufarbeitung der Geschichte kann man noch nicht umgehen. Die Duma in Moskau laesst nichts darueber verlauten, man ist immer noch wie betaeubt davon und verdraengt.
Eine einzige Gedenktafel finde ich spaeter auf der Kolyma-Trasse, sonst keinen schriftlichen Hinweis.
Unter Gorbatschow wurde erst 1987 das letzte Straflager aus dieser Zeit geschlossen.
Larissa, die Wirtin der Herberge bringt mich zu einem Betonmonument auf einer Anhoehe, welches an die Gulag-Opfer erinnern soll.

Heutzutage liegt Magadan nur geographisch am Ende der Welt. Genauergenommen geht hier die Sonne auf, ist Geburt und waermt die Herzen, waehrend sie im Westen buchstaeblich ins Wasser, ins Meer faellt, vor Teilnahmslosigkeit, vor Selbstsucht und Gefuehlskaelte. Es sind ganz besondere Menschen, so abgelegen wie die Stadt liegt, sind sie freundlich wie Insulaner. Ich erwartete ein kleines tristes Kuestenstaedtchen mit ueberalterter Bevoelkerung, aber selbst hier sieht man schon erstaunlich viele huebsche Menschen, na und sind die Frauen schoen, so liegt’s an den Maennern, verweist auf eine gesunde Rollenverteilung, auf eine gesunde Gesellschaft. Mit knapp 100.000 Einwohnern ist es mit Abstand die groesste Stadt zwischen Wladivostok und Jakutsk.
Am liebsten wuerde ich gleich hierbleiben, ein Zimmer mieten, Russisch lernen, so wohl darf ich mich fuehlen, so herzlich werde ich aufgenommen. Schon am dritten Tag will Larissa kein Geld mehr fuer die Unterkunft, leckeres Essen kocht sie - auch das eine Wohltat nach der Ami-Diaet. Grosse Supermaerkte sucht man vergebens, statt dessen gibt es viele kleine Laeden, die ein ausgewogenes Warenangebot haben. Nichts vermisse ich. Es gibt ausgesprochen wenig Selbstbedienungslaeden im Land, so bereitet es mir die erste Zeit einige Muehe, die Waren zu benennen, welche die Verkaeuferinnen mir dann ueber den Ladentisch reichen. Viele benutzen zum Addieren noch den sympathischen Abakus.
Natuerlich bin ich in jedem neuen Land erstmal euphorisch, etwas, das ich mir vielleicht abgewoehnen sollte, doch zu dem bereisten Teil Russlands werde ich spaeter zurueckblickend feststellen, dass mir die Leute aus dem Magadan-Gebiet die liebsten waren.

Ich sollte mich nun beeilen, um nicht vom tiefsten Winter ueberrascht zu werden, mittlerweile hat hier laengst der kurze Herbst Einzug gehalten. Zumindest gibt es keine Mueckenplage mehr. Als ich endlich auf dem Rad sitze, bemerke ich, dass der Lenker auf dem Transport verbogen wurde, trotz der Box. Unglaubliche Kraefte muessen darauf gewirkt haben, wahrscheinlich lag es quer oder man stellte es auf den Kopf ohne der aufgemalten Richtungspfeile zu achten. Etwa zwei Stunden bemuehe ich mich aengstlich und mit wenig Erfolg, verwindungssteifes Aluminium mit einer Eisenstange gerade zu biegen.
Nach dem ersten Tag ist der Asphalt zu Ende, Dshamil aus Daghestan winkt mich von der Strasse herein. Am zweiten Tag geht es auf guter Piste durch den Wald und der Regen setzt ein. Maronenpilze saeumen den Strassenrand, aber die sind alle schon etwas zu faulig. Dafuer finden sich dazwischen noch ein paar Blaubeeren.
Im Stromregen treffe ich am Morgen in der naechsten verschlafenen Ortschaft eine Babuschka, die schliesst die Backstube fuer mich auf, bei Tee und Broetchen erklaert sie mir, sie sei neben der Dorfbaeckerin auch die Ortskommandantin. Sie schenkt mir noch einige Mohn-, Zwiebel-und Kartoffelbroetchen als Proviant fuer den Tag, der wieder ein langer wird. Bei ernuechternden Durchschnittsgeschwindigkeiten von 10 bis hoechstens 14 Kilometer pro Stunde, sitze ich haeufig sieben Stunden pro Tag im Sattel. Ich will unbedingt noch zur naechsten Ortschaft gelangen, fuer Zeltromantik nehme ich mir mir keine Zeit, es wird jeden Tag kaelter. So faellt fuer mich der erste Schnee schon am 12ten
September (der letzte am 22sten April in Mongolien). Ein suesses Huendchen laeuft mir von einem Gehoeft aus zehn Kilometer hinterher. Ich dachte schon, nun haette ich also einen Hund, so kaeme man wohl auf den Hund. Irgendwann wurde es mir zu unheimlich, mir schwebte der Futteraufwand, womoeglich noch ein Anhaenger, Impfungen, schwierige Grenzuebertritte vor, so dass ich energischer werden musste, anfing, boese zu spielen, um die Kleine endlich zur Umkehr zu bewegen.

Die Ortschaften sehen allesamt duester aus, die wenigen dagebliebenen Leute sind - solange man noch im Hellen ankommt - herzlich und behilflich.
Nicht einer ist im ganzen Land aufdringlich, man laesst den Fremden in Ruhe, bis er sich selbst vorstellt. Dazu begruesst man sich zwischen den Maennern mit Handschlag und nennt seinen Namen. Frauen gibt man, wie in den meisten Teilen der Welt nicht die Hand. Falls man sich angenehm war, so begruesst man sich beim naechsten Mal - in seiner Altersklasse - dann mit dem angedeuteten Wangenkuss. Zumindest in dieser Gegend gibt es zwischen den Maenner und mir kein laestiges Muskelgespiele. Immer werde ich gleich einem Bruder empfangen, man setzt mir der Reihenfolge nach Tee und Gebaeck vor, dann marinierten Fisch mit Brot und schon ist man beim Vodka angelangt. Anders als bei uns wird bei vorsaetzlichen Alkoholgebrauch nicht nur getrunken und geraucht, sondern dazu gehoeren immer kleine Beilagen. Bis heute habe ich es leider nicht begriffen und auch niemand konnte mir eine plausible Antwort darauf geben, warum sie nach jedem Vodka gleich irgendwas essen, um den Geschmack zu neutralisieren, zur Not auch einfach an einem Stueck Brot riechen. Ob ihnen der Vodka etwa nicht schmecken wuerde, fragte ich oft nach der Aufwaermphase. Getraenke schnell zu schuetten, das ist Trinkertradition!
Bei Gottlieb, deutscher Abstammung, darf ich im Gartenhaeuschen uebernachten, im Dunkeln im Schneegestoeber kam ich an, die Tueren blieben verschlossen. Seine Frau stellt mir noch Brot, Wurst und Tomaten hin, obwohl ich doch nur einen Schlafplatz suche. Tausende deutscher Siedler liess
Stalin nach dem Einfall Hitlers kurzerhand aus frontnahen Gebieten in den Fernen Osten deportieren, da er befuerchtete, sie wuerden mit den Nazis kollaborieren. Verblichene Abziehbilder von Halbnackten im 80er-Jahre-Stil an dem Mobilar druecken den Wunsch nach westlicher Welt aus. Wenn ich diese halbzerfallenen Siedlungen sehe, krampft sich das Herz zusammen, da muss ich schlucken, da verstehe ich sie mit ihrem Trinkkonsum. Ich hoffe, sie sind doch irgendwie gluecklich. Kartoffeln gedeihen im kurzen Sommer gerade noch, in kleinen Gewaechshaeusern ziehen sie stolz ein paar Tomaten, Gurken, Zwiebeln heran.

Mal ist die Trasse eine ausgezeichnete Kohlenstrasse, dann wieder eine verschlammte Baustelle. Wenn dann die Temperatur nur kurz ueber dem Gefrierpunkt ist, reicht der Fahrtwind aus, um den Schlamm in den Schutzblechen gefrieren zu lassen, und so bin ich haeufig noch mit Freikratzen beschaeftigt. Aber deshalb bin ich nicht veraergert, ich habe mir vorgenommen, mich auf der „ Strasse der Knochen“ ueber nichts zu beklagen.
An einem Flusscamp erlebe ich Maenner, die hier ihre Freiheit ausleben, ueber Wochen und Monate nur von Fischfang und der Jagd leben. Die Fische werden luftgetrocknet, welche das feuchte, kuehle Klima aber nicht ausdoerrt. Man verzehrt sie, indem man ihnen die Innereien entnimmt, natuerlich den Kopf abschneidet und ihnen Stueck fuer Stueck die Haut abpellt. Dazu bietet sich wieder Vodka an. Hier ist man auf kleine Flaeschchen rosa-farbenen Apothekerschnaps mit stolzen 75 Prozent uebergegangen, den ich widerlich in der Wirkung finde. Man trinkt nur wenig, doch werden die Glieder und die Zunge schnell schwer und man kann sich nicht mehr gerade halten. Mit einem zuenftig deutschen „Aufstehen“ werde ich am naechsten Morgen von der Bank geworfen.
LKW-Fahrer halten oft an, kommen mit Fotoapparat heraus und wollen sich mit mir ablichten lassen. Es enstehen immer Fotos der Art, wie ich sie nicht mag: Man postiert sich auf und grinst in die Linse - wie zu den Anfaengen der Photographie! Keine Bewegung, kein Detail.

Myaundzha ist der erste Ort auf Dauerfrostboden. Die Betonsiedlung ist deshalb auf Pfeilern gebaut, die sechs Meter in den gefrorenen Boden gerammt wurden. Sonst wuerde durch die abgestrahlte Waerme der Boden auftauen und so das Haus Stueck fuer Stueck in den Boden einsinken lassen.  Im Ort komme ich im Arbeiterwohnheim unter, es ist Samstagabend, die meisten dort sind deswegen schon halb betrunken und euphorisiert ueber mein Erscheinen. Aber ich muss erstmal durchatmen, dusche, wasche meine Sachen, die man im Heizungsraum aufhaengt, bevor ich mich eher unwillig zu der Einladung begebe. Wie immer muss ich mich erstmal setzen, Salate werden aufgetischt, kleine Rippchen, Speck und - keine Frage - Vodka. Die sind so lieb, meine Bedenken sind alsbald dahin. Alle kommen aus Magadan, bleiben bis zu drei Monaten hier und sind dann genauso lange zu Hause. Die meisten sind LKW-Fahrer, die vom riesigen Tagebau in der Naehe Steinkohle hier ins Heizkraftwerk fahren. Produziert wird hier anscheinend nichts. Schraeg gegenueber sitzt der allerliebste Gena. 50 Jahre ist er und 150 Kilo schwer, auch sein Gemuet ist das eines Teddybaers. Er ist auch der einzige, der sich hier keine Freundin haelt, wie fast alle Montagearbeiter. Wenn er redet, hoeren die anderen zu. Mein Russisch ist noch sehr schlecht, ich habe grosse Probleme, die Leute zu verstehen, aber seltsamerweise verstehe ich fast alles, was Gena erzaehlt. Dass die Perestroika nicht gut gewesen sei, ueber zehn Jahre waren sie sich selbst ueberlassen, viele verhungerten in dieser Region, die nun nicht weiter von Moskau subvensioniert wurde. Auf Gorbatschow seien sie deshalb nicht gut zu sprechen. Ich wuerde auf meinem Weg noch durch viele solcher Geisterdoerfer kommen, deren Bewohner aus blankem Ueberleben wegziehen mussten. Unter Breshnew sei es allen gut gegeangen, er haette den Aubau der Gegend grosszuegig mit Geld gefoerdert. Viele aus dem Westen der Sowjetunion seien in dieser Zeit hierhergezogen. Er erzaehlt vom aufgetauchten Ami-U-Boot in der Bucht von Magadan auf der Hoehe des Kalten Krieges, erklaert mir das symbolische Finger-gegen-den-Hals-schnipsen, welches das Vodkatrinken bezeichne, dessen Ursprung ein Gespraech zwischen Zar Nikolai dem Zweiten und einem Matrosen haben soll.
Die Rolle der Frau fasst er spaeter noch auf deutsch mit „Kinder, Kueche, Kirche“ zusammen.
Sie lernten ja frueher Deutsch in der Schule, wie der Ostdeutsche eben Russisch. Trotz der ganzen Luegen dieser Zeit nach dem Krieg, ist tatsaechlich eine Vertrautheit zwischen beiden geblieben, an der der Westdeutsche keinerlei Verdienst hat. Er wuchs ja in der besseren Gesellschaft auf und blickte bis zur Wende eher abfaellig nach Osten. Falls man mal auf den Zweiten Welkrieg zu sprechen kommt, winken die alten Russen immer vergebend ab. Ich versuche dann entschuldigend hinzuzufuegen, dass Russland und Deutschland vor der dunklen Epoche lange Freunde gewesen waeren und man sich nach dem Krieg auch wieder um Annaeherung bemuehte.
Es gibt einige Dutzend deutscher Woerter, welche man ins Russische schlicht uebernommen hat. Man ist den Deutschen unbegreiflicherweise immer gut gesonnen - vor soviel Grossmut kann ich mich nur verbeugen. In meinem halben Jahr im Fernen Russland, Jakutien und etwas Ostsibirien brauchte ich mich deshalb nie wie ein Fremder zu fuehlen.

Am naechsten Morgen laufen zwei Fahrer mit mir zur LKW-Garage, wo wir geduldig einen Ersatz fuer die Mutter suchen, die sich von meinem Vorderradgepaecktraeger losgeruettelt hatte. Gena begleitet mich dann auf meiner Einkaufstour fuer die kommenden Tage in den Ort. An der Kasse verstehe ich warum: Er laesst sich nicht davon abbringen, mir alles zu bezahlen und legt mir noch dies und jenes dazu. Ich protestiere, aber dagegen komme ich nicht an. Vom Restalkohol noch emotionalisiert muss ich auf dem Zimmer ein bischen schluchzen ueber soviel Herzlichkeit (wahrscheinlich wird mir gerade auch uebel, in Erinnerung daran, wie man mich meistens in den USA behandelte). Gena will mich beruhigen, laesst mich dann allein und schickt mir die restliche Mannschaft vorbei, die mich alle mal herzen und mir gut zureden.
Am naechsten Tag komme ich endlich los, Gena und Sasha zuecken ihre Geldboersen und wollen mir allen Ernstes ein paar tausend Rubel fuer die Weiterreise zustecken. Diesmal will ich aber deutlich werden und zeige ihnen kopfschuettelnd den Vogel, um sie wirklich davon abzubringen. (Dafuer gibt es immer noch Russen, die am Hungertuch nagen, und meine Reise steht unumstritten unter der Rubrik „Vergnuegen“.)
So etwas, lieber Leser, ist mir auf meiner ganzen Fahrt noch nicht unterkommen, und wie ich hier so schreibe, weiss ich, dass ich sie unbedingt wiedersehen will!

Myaundzha ist auf meiner 25 Jahre alten Strassenkarte, die ich mir in Magadan noch in der Bibliothek kopierte, nur als kleiner Ort eingezeichnet, demanch ist Kadyktschan gleich daneben der Hauptort. Acht Kilometer abseits der Hauptstrasse sieht man komplett erhaltene Gebaeudekomplexe doch niemand wohnt dort mehr - kein Geisterort, eine Geisterstadt zeigt sich beklemmend. Es passiert mir noch haeufiger, dass eingezeichnete Siedlungen, auf die ich mich freute, dann nur ein paar Ruinen sind, wo niemand mehr wohnt.
Die Waelder sind nun in herbstliches Braun getaucht, nur selten begegnet mir ein Auto. Den ersten Jakuti treffe ich mit seinem Kumpel. Ihr UAZ-Gelaendewagen ist liegengeblieben, sie raetseln ueber die Ursache, lassen sich vergebens von einem LKW anschleppen und trinken dabei immer ein Schlueckchen 95prozentigen Spiritus. Schliesslich merkt der eine endlich, sie haetten die Benzinleitung nicht aufgedreht. Abschliessend soll ich ein Foto von ihnen machen und nun muesste ich es ihnen ja auch schicken, meinen sie. Die Chaoten wohnen in einer Huette tief in der Taiga, es gibt keine Frauen, also auch keinen Aerger, sie existieren von Jagd und Fallenstellen, Holz gibt es ja genug, sie brauchen fuer ihr Glueck nichts weiter als Zigaretten, Alkohol und ein bischen Benzin.  
In den Goldgraebercamps trinkt man sich gleich allabendlich ins Delirium. Sie kommen einigermassen frisch an, bald entgleisen sie, fallen um wie die Fliegen oder fuchteln mit den Haenden eingebildete davon. In kleinen Gruppen schuerfen sie tief in der Taiga je nach Glueck etwa 25 bis 70 Gramm pro Tag, man zeigt mir die Tagesausbeute. Es gibt auch noch groessere, besser organisierte Goldminen, aber der Alkoholkonsum ist dort ebenso erschreckend. Manchmal begegnet mir schon morgens ein LKW, dessen Fahrer mit mir anstossen will. Mein stiller Protest besteht fuer eine Weile darin, gar nichts zu trinken, auch wenn ich sonst immer ein bischen landeseigenen Fusel dabei habe.
Alle wollen mich vor Baeren warnen, die natuerlich viel gefaehrlicher seien, als die nordamerikanischen, aber ich sichte nicht einen waehrend meiner Fahrt, das Gebiet ist so riesig und menschenleer, dass sich ein Baer nur aus Versehen an die Strasse verirren wuerde.

Nach einem einsamen verregneten Tag will ich in der Daemmerung mein Zelt aufbauen, aber dann entdecke ich voller Freude eine schwache Rauchfahne in der Naehe. Die kommt aus einer Wetterstation, wo Juri und Victor aus dem Westen Russlands in Wechselschicht fuenfmal pro Tag
Windgeschwindigkeit, Luftdruck und Temperatur messen. Drei Jahre sind sie schon hier, mit einmonatigen Heimaturlaub. Es gefiele ihnen, sie wollten den Vertrag auch verlaengern, nur Maedchen wuerden sie vermissen.
Ab hier beginnt die Sakha Jakutia, ein Gebiet, was etwa so gross wie Indien ist, aber nur 1,2 Millionen Einwohner hat, davon die hinterm Komma in der Hauptstadt Jakutsk wohnen.
Drei Tage spaeter komme ich nach Ust-Nera, einem Goldgraeberstaedtchen am Ufer der Indigirka gelegen. Viele Zwangsarbeiter der Gulags wurden, nachdem sie wider erwarten ueberlebten, am Zurueckkehren in ihre Heimatgebiete gehindert, indem Stalin kurzerhand beschloss, sie auf Lebenszeit dort im Exil zu lassen. So wurde diese wilde herbe Gegend dann eben zu ihrer neuen Heimat.
Nachdem ich meine Vorraete auffuellte ein bischen spazierenging, Rad und Kleidung pflegte, rolle ich weiter und habe etwas Muehe, die richtige Abzweigung zum neu entstehenden Teilstueck der Trasse zu finden, weil weiter sonst nur eine Winterstrasse besteht, deren Eroeffnung ich nicht abwarten kann.
Am Abend stehe ich dann am Ufer der Nera. Die fehlende Bruecke macht die Strecke nach Magadan waehrend der eisfreien Jahreszeit auch fuer den allerbesten Gelaendewagen unpassierbar. So treffe ich spaeter das zweite Mal auf drei Maenner aus Moskau, die mit ihrem UAZ bis nach Magadan wollten und unverrichteter Dinge umkehren mussten. Beim Faehrmann darf ich dann auf der Couch schlafen. Den naechsten Morgen benutze ich einmal andere Muskeln und helfe Nicolai seine LKW-Ladung voller Lebensmittel auf den Kutter zu stapeln. Am anderen Ufer wartet seit drei Wochen sein Ural auf uns, in den wir alles wieder einladen. Dafuer nimmt er mich dann die naechsten dreissig Kilometer mit, da wir noch zwei ueber einen Meter tiefe Fluesse durchqueren. Gerne habe ich geholfen, so wie man mir hier taeglich hilft,  doch im naechsten Ort, den er in regelmaessigen Abstaenden von Magadan aus versorgt, drueckt er mir dann eine Riesentuete voller Snickers und Schokowaffeln in die Hand, dazu noch unsinnig viele Konserven suesser Kondensmilch und etwa fuenf Kilo Zucker, schon ist er weg.  
Der Dorfgeneral dieser straff organisierten Goldmine verweigert mir dann die Nacht im Ort, woraus ich schliesse, dass man hier wirklich viel Goldgestein - untertage, im Drei-Schicht-Betrieb - abbaut.  Den Zucker und die Konserven lasse ich zurueck, im Nieselregen mache ich mich dann spaetnachmittags auf die verschlammte Piste. Da ich die falsche Ausfahrt nehme, ist die Strasse auf einmal von einem munteren Bach weggespuelt, mit ein paar duerren Baumstaemmen, davon es in der urwaldgleichen Taiga genug gibt, will ich mir einen Steg bauen, das Rad bekomme ich trocken hinueber, aber die Fuesse nicht. Aus Leibeskraeften zerre ich die Fuhre die Boeschung hinauf, bald haelt ein LKW, dessen Fahrer meint, nicht weit von hier waere ein Strassencamp. Aber das entdecke ich nicht, statt dessen stehe ich zwei Stunden spaeter wieder vor einem Fluesschen. Da kommt ein Ural an, der in der Daemmerung die verstreuten Arbeiter aufliest, die nehmen mich dann mit. Diesmal bereue ich’s nicht, denn das etwa 18 Kilometer lange Stueck haette mich sicher einen ganzen Tag gekostet, sooft wie sich der Sechsradantrieb durch den Schlamm wuehlen, dass die Raeder fast verschwinden und noch einige Furten durchquert.
Klar bin ich dankbar, wenn ich jetzt nicht unbedingt zelten muss, auch freue ich mich, in dieser Wildnis abends dann auf Menschen zu treffen, aber ich bin nicht dahinter gekommen, warum die Bauwagen ueber Nacht immer voellig ueberhitzt sind, dazu noch der Zigarettenqualm im Vielbettverschlag steht - es scheint eine russische Eigenart zu sein. Naja, tagsueber hat man dann dafuer genug Frischluft.
Noch ein paar Furten liegen auf dem Weg, bevor das Teilstueck mit der alten Trasse zusammenlaeuft, ich habe mir deshalb die Badelatschen zurechtgelegt.

Hier in der Naehe liegt der Ort Ojmjakon, welcher als der kaelteste Ort der noerdlichen Hemisphaere betrachtet wird. Die Wetterstation in der Naehe mass im Jahre 1926 das Rekordtief von minus 71,2 Grad Celsius.
Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei minus 16,3 Grad, trotzdem wohnen hier ein paar hundert Menschen. Im Schneetreiben treffe ich bald darauf auf einen Jakuti, der zu Fuss zum immer noch 36 Kilometer entfernten Ort Kjubuma, einem „fast“-Geisterdorf unterwegs ist, sechs Uhr morgens lief er von seiner Huette tief in der Taiga los, Autos, die ihn mitgenommen haetten, gab es heute nicht. Da ich ja gerade auch ein Taigabewohner bin, freue ich mich, ihm - vor lauter Respekt - mit Brot, Wurst und Schokolade zu fuettern.

In der kleinen Siedlung Raswilka in einem malerischen Tal gelegen, ruhe ich mich einen Tag aus, also dusche und wasche meine Sachen im Badehaus, pflege das Rad, wechsle den Schlitten vom Zeltreissverschluss, benaehe Innenfutter der Schuhe und die Handschuhe. Die Babuschka bringt mir ein riesiges Hirschsteak, wovon ich die Haelfte anbrate und mir ein paar Suppennudeln dazu koche. Hier laeuft man wieder auf Stegen ueber die Heizleitungen. Das Holzhaus, was ich bewohne, ist schon etwas in den Boden gesunken, man kommt sich erstmal wie betrunken vor, bis man sich an den schiefen Boden gewoehnt hat.
In der Nacht hat es wieder geschneit, nach sieben Kilometern Rutschpartie entschliesse ich mich, lieber zurueckzufahren und meinen letzten Joker, die Spikereifen von „Schwalbe“ geschenkt, heraus-, beziehungsweise aufzuziehen. Die Dorfkommandantin ist von meiner schnellen Rueckkehr nicht begeistert und schimpft, das waere ein Arbeiterwohnheim und kein Gaestehaus. Sie hoert mir gar nicht zu und laesst mich einfach stehen, dass ich ins Deutsche fluchend uebergehe und die Haustuer zuwerfe. Aber Babuschka nimmt mich wieder herzlich auf, kommt sogar bald darauf mit einem Toepfchen voll Suppe an.
Spaeter bemerke ich mit Entsetzen beim Nachziehen der Konen, die sich durch die zunehmende Kaelte, wie alle Muttern etwas gelockert hatten, dass die Vorderradachse gebrochen ist. Das muss wohl ein paar Tage vorher passiert sein, als mich die zwei jungen Typen einer Wetterstation abwiesen, zehn Kilometer weiter kaeme ja ein ein Strassencamp, daraus dann 35 Kilometer bis in die tiefe Dunkelheit der Taiga wurden, ich mit Dynamolicht durch Schlagloecher krache, welche der Neuschnee zugeweht hatte, bis ich endlich en paar unbeleuchtete Bauwagen ausmache und ich die einzigen zwei Arbeiter erst wachrufen muss.
Man findet in der oertlichen LKW-Garage ( in dieser Gegend gibt es fast keine Privatautos ) natuerlich auch kein nur aehnelndes Ersatzstueck, ist auch nicht grossartig interessiert an meinem Problem. Bis tief in die Nacht probiere und fummle ich herum, fest entschlossen, die verbleibenden 600 Kilometer bis Jakutsk nicht mit dem LKW zu fahren. Die Bruchstelle bringe ich schliesslich mit Zwei-Komponenten-Kleber und zweieinhalb Drehungen genau in den Konus ein, indem ich die Achse soweit verschob, dass sie gerade noch in der Gabel sass, baue alles wieder zusammen, und denke mir, das koennte halten.

Trotz der Spikereifen war es am naechsten Tag die reinste Rutschpartie, wieder ein Grad und ein bischen Wind, der die Piste in eine Eisbahn verwandelt. Bergab sass ich auf dem Oberrohr mit den Schuhen auf dem Boden schlitternd, einmal warf mich mein Stahlross dann doch ab, ein paar Sekunden lies ich mich so liegen, wie ein Kaefer in den Himmel blickend und wunderte mich ueber die Stille. Am selben Tag gibt es dann auch wieder Bauabschnitte, wo alles binnen fuenf Minuten eingeschlammt ist. Der Schotter variiert von Kieselsteingroesse bis hin zu faustgrossen Wackersteinen. Am besten ist’s fuer mich, wenn die LKW sie nach einer Weile an den Strassenrand geschoben haben, doch dann brauch ich nicht lange auf den naechsten Grader zu warten, der sie wieder gleichmaessig auf die Fahrbahn verteilt. Ohne das Steinbett wuerde es ja im Sommer alsbald tiefe Fahrrinnen geben, welche die Piste zerstoeren wuerden. Es ist eben eine Versorgungspiste fuer schwere Maschinen.
Es laesst sich nun nicht mehr so leicht wie im Magadan-Gebiet unterkommen, aber Herbergen sind recht spaerlich vorhanden. Maenner fragen mich meist nur aus, anstatt mir weiterzuhelfen, so sind es immer wieder die Frauen, die sich pragmatisch zeigen, bei Bekannten anrufen, von denen sie wissen, sie haetten ein leerstehendes Zimmer. "Leninismus" sei ja - einer sozialistischen Schuldefinition nach - "Kommunismus plus Elektrifizierung des ganzen Landes", also der damaligen Sowjetunion. Das hat Lenin durch seine Erben tatsaechlich wahr gemacht: Bis in die kleinste Ortschaft fuehrt der Strom hin, selbst Telefonanschluss gibt es in jedem Haus!

In Khandiga, dem ersten groesseren Staedtchen, will ich dann nach einem Monat mal wieder meine Elektropost durchsehen und muss lesen, dass die Mutter drei Wochen zuvor von einem Auto gerammt wurde, aber es ihr unglaublicherweise schon wieder besser gehe. Grund genug fuer mich mal wieder mit dem Rauchen anzufangen.
Nach der Stadt ueberquere ich dann spaetabends mit einer Faehre den Aldan-Fluss, verbringe die kalte Nacht in einem fenster-und tuerenlosen Blockhaus. Auch die Tage werden immer kaelter. Pausentage will ich deshalb nicht einlegen, schon am Morgen sehe ich muede aus vom taeglichen Gewaltritt. Unterwegs kaue ich auf gefrorener Wurst und trinke Eiswasser, bis ich in einem hellen Moment darauf komme, die Wurst und das Brot am Koerper zu tragen. - In der Kaelte fliessen die Hirnstroeme doch auch verlangsamter. So richtig bin ich mir noch nicht klar darueber, wie und wo ich den Winter verbringen will. Wenn ich mich beeile und noch soweit wie moeglich nach Sueden komme, so stelle ich mir vor, wuerde es vielleicht etwas waermer bleiben. Von den romantischen Voerstellungen in einem Taigadorf zu ueberwintern, habe ich mich laengst verabschiedet. Das ist mir dann doch zu einsam. Wenn man in den langen lichtarmen Kaeltemonaten niemanden zum Waermen hat, gleicht ein Aufenthalt an solchem Ort einer Verbannung.

Es faellt immer mehr Schnee. Mit Jakutis schlafe ich zu acht im Bauwagen. Alle haben sie leichtbekleidete Schoenheiten als Poster ueber ihren Betten haengen. Auch ich soll nicht alleine schlafen, so heften sie mir ebenfalls eine Unbekannte an mein Kopfende. Zur Daemmerung erreiche ich noch die naechste Ortschaft. Wieder einmal stehen gefaehrlich betrunkene Jakuten vor mir und nur weil sie mir die Hand hinstrecken muss ich zum hundersten Mal meine zwei Paar Handschuhe ausziehen und auf das stereotype "at kuda" - woher, antworten. Ueber Nacht sind etwa 50 Zentimeter Neuschnee gefallen, durch den Ort kann ich nur stolpern, schieben, rutschen, aber ich hoffe, zumindest die Hauptstrasse sei schon geraeumt. Immer wieder klammere ich mich an solche kleinen Hoffnungen, laengst zeigt die Erfahrung, dass sie sich fast ausnahmslos nicht erfuellen, seien es Ansagen ueber Strassenbeschaffenheit, ueber Distanzen - immer lasse ich mir etwas vormachen. Man soll ja Optimist bleiben, mit anderer Einstellung - manch einer faselt gerne von "Murphy's Gesetz", immer vom Schlechtesten auszugehen - geht man lieber erst gar nicht auf solch eine unueberschaubare Reise. So komme ich an diesem Tag nur 32 Kilometer weiter zum naechsten wirklich romantischen Dorf. Die Leute sprechen untereinander Jakuti, Kuhhirten sitzen auf ihren kleinwuechsigen Pferden, die den ganzen Winter ueber draussen bleiben und selbst Kaelte von minus 50 Grad Celsius vertragen, so gut sind sie dem Klima angepasst. Pascha, die Angestellte des oertlichen Cafes stapft mit mir zu einem pensionierten Lehrerehepaar, bei dem ich in der Stube uebernachten darf. Sooft passiert es: Ich werde zu wildfremden Leuten geschickt, denen Angst ein Fremdwort ist, welche mich in ihre vier Waende aufnehmen, als sei ich ein Vertrauter, mich an den gedeckten Tisch bitten, oft noch Couch oder Klappbett zum Nachtlager bereiten. Dafuer bin ich meinen Russen ewig dankbar. Das Enkelkind fuehrt mich herum, wir besuchen den Grossvater, der trotz seiner Jahre noch auf dem Heuschober herumklettert, die Kuehe im grasueberwucherten, bunkeraehnlichen Stall versorgt. Nach dem Essen verzieht er sich alsbald in sein kleines Nachbarhaeuschen - es sei ihm zu laut bei Frau und Enkel, dabei herrscht hier wunderbare Stille. Alleine deshalb ist er mir sympatisch, weil ich mich in ihm mal wieder spiegeln kann. Er zeigt mir sein kleines Reich, auf einer Anrichte steht ein Stalinbild, sein Idol sei er, so behauptet er geradlinig. Gerade unter den alten Jakutis findet man noch viele eingefleischte Kommunisten, ohne Stalin waere die Neuzeit hier voruebergezogen, die Erschliessung und Verbindung zur restlichen Welt. Von seinen Greueltaten wollen sie nichts wissen. Wenn man von klein auf eine Person idealisierte, dann will man sich im Alter dieses Bild auch nicht mehr entzaubern lassen.
Unterwegs rufen mir die Jakuten, sobald sie hoeren, ich sei Deutscher, so wie sie es aus unzaehligen monumentalen Kriegsfilmen wissen (wie im zweiten Kanal des DDR-Fernsehens gezeigt): "Haende hoch!" und "Schnell, schnell!" zu, so dass ich mir nach einer Weile angewoehne, ihnen auf das "at kuda?" direkt mit "Nemski, Haende hoch!" zu antworten. Und alle haben was zu lachen. Trinkwasser sehe ich von nun an in der ganzen Gegend in Eisbloecken bereitliegen, welche aus nahen Seen und Teichen gehakt wurden.

Am 12ten Oktober setze ich dann ueber die hier etwa zwei Kilometer breite Lena, was in der Sprache der Einheimischen soviel wie "grosser, reicher Strom" bedeutet. Am anderen Ufer baut sich dann stromaufwaerts Jakutsk auf.
Es scheint schwierig, sich hier billig einzuquartieren, mehrere Tage muss ich noch auf die bestellten Achsen warten, die kosten nur wenige Euro, aber mit der Versendung und der Unterkunft werden es ueber 200. Anstatt im angepriesenen Mammut-Museum lande ich im Eislabor, nach dem dritten Versuch gebe ich dann auf. In der Stadt bemerke ich endlich, dass nur Obdachlose Russen einen Wucherbart tragen, so entschliesse ich mich, mein Gesicht nach sechs Wochen wieder frei zu schaben. Ich bildete mir ein, ein Bart wuerde mich vor der Kaelte oder zumindest vorm Fahrtwind schuetzen, doch hat man dazu noch eine Gesichtsmaske auf, so haftet diese alsbald durch das Eis des kondensierten Atems am Bart.
Jakutsk ist in erster Linie ein Handelsplatz, den Sommer ueber befahren Tanker und Containerschiffe die Lena hinauf bis ans Eismeer und weiter bis in den europaeischen Teil Russlands. Das Land ist reich an Gold und beruehmt fuer seine Diamantenvorkommen. In Khandiga wie in Jakutsk sah ich einige Diamantenschleifereien und hier reihen sich die Schmuckgeschaefte aneinander. Vor allen die Frauen tragen hier Pelze - in dieser Klimazone ein Muss, desgleichen der Fleischkonsum, welches der beste Energiespeicher fuer die Kaelte ist. Kinder aehneln kleinen Pelzknaeueln, so unfoermig, wie sie in ihrer Kleidung vorwaertsstolpern. Selbst jakutische Maedchen sehen oft aus wie Models, so langbeinig, mit hohen Wangenknochen und einem lasziven Blick aus ihren schmalen Augen.

Auf dem Markt vor dem Hotel, aus dessen Erdgeschoss jede Nacht der Diskobass bis in mein Zimmer droehnt, besorge ich mir in einem lichten Augenblick vor meiner Weiterreise noch aus bester enggestrickter Schurwolle Faeustlinge, Socken, so dick, dass sie nur zum Schlafen gut sind und einen Nierengurt. Dazu noch eine Art Kragen aus synthetischer Wolle, den ich bis ueber die Nase ziehen kann. Das Gewicht des Rades ist sowieso schon ein Unglaubliches, doch mit der Kaelte muss man sich arrangieren. Sehr leicht kann man sich Extremitaeten erfrieren. Ich sah einige Vodkaopfer, denen - auf dem Nachhauseweg eingeschlafen - abgestorbene Finger und Zehen amputiert werden mussten.
Im Marktgebaeude dagegen denkt man sich wie auf der Seidenstrasse. So viele Haendler hinter ihren aufgebauten Gemuese und Obst, hinter Fisch - und Fleischstaenden kommen aus den suedlichen Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion. Anscheinend werden diese leicht verderblichen Waren alle per Flugzeug herangeschafft. Die im Bau befindliche Eisenbahnstrecke soll in fuenf Jahren Jakutsk erreicht haben.

Als ich nach zehn Tagen endlich loskomme, ist die Anlegestelle der Faehre schon voellig vereist und vereinsamt. Ein Doktor geleitet mich in seinem Gelaendewagen fuenfzehn Kilometer stromabwaerts, wo sich die naechste Faehranlegestelle befinden soll und verabschiedet sich dann eilig. In der Bucht ueberwintert aber nur eine beachtliche Flotte von Versorgungsschiffen, doch auch hier gibt es keine Faehre. Ruslan, der hier ein Lebensmittelgeschaeft betreibt, will mich dann zur Faehre eskortieren, langsam bin ich muede und gereizt in der Kaelte hinter Autos herzuhetzen. Er laed noch schnell ein paar Waren ab, ich weiss nicht, ob's ein Scherz war, als er mir im Laden erst seine Frau und dann die Angestellte als seine Freundin vorstellt. Wir fahren den halben Weg wieder zurueck und biegen dann einen verwinkelten Feldweg ein, der nach zwei Kilometern tatsaechlich an einer Anlegestelle endet. Eine Stunde spaeter gegen 18 Uhr legt die Faehre dann endlich an, es dauert eine kleine Ewigkeit, bis die LKW alle von Deck sind, die steile Boeschung hinauf hilft ein Raupenfahrzeug den schwaecheren Fahrzeugen. Ebenso lange dauert es in dieser Kaelte, bis etwa zwanzig Sattelschlepper, dazu noch einige Taigatrommeln (gelaendegaengige Kleinbusse) zentimetergenau einrangiert wurden. Gegen 23 Uhr geht es endlich los, ganz langsam manoevriert die Faehre ueber die voller Eisschollen schwimmende Lena. In ein paar Tagen wird der Faehrverkehr auch eingestellt, dann baut man mit Hilfe von wasserverspruehenden Tankfahrzeugen die Eisbruecke zum anderen Ufer. Alle Motoren sind an, viele LKW werden diese nun den ganzen Winter im Freien nicht mehr abstellen, bei ein paar Jakutis darf ich mich im UAZ aufwaermen. Am anderen Ufer bin ich dann auf mich gestellt. Die Stirnlampe aufgesetzt stolpere ich die eineinhalb Kilometer lange wartende LKW-Kolonne ab, das naechste Dorf ist weit entfernt, so entschliesse ich mich nach einem weiteren Kilometer nachts zwei Uhr, das Zelt aufzuschlagen. Es wird eine scheussliche Nacht, alle paar Minuten werde ich aus der Halbwelt wirrer Traeume von der Kaelte aufgeschreckt. Die ausgeatmete Luft bildet eine Eisschicht im Zelt. Morgens halb neun schaue ich bei strahlender Sonne aufs Thermometer am Lenker, welches eisige minus 25 Grad anzeigt. Ausser ein paar Keksen habe ich nichts zu essen, nichts zum Kochen, das Vorderrad hat einen Platten, aber zum Glueck hat sich das Ventil nur vor Kaelte gelockert. Gegen zwoelf bin ich dann bereit, aufzustehen, halb drei ist alles verpackt, vier Kilometer weiter stelle ich fest, dass ich mein kleines blaues Kuechenmesser aus Bolivien, der Alleskoenner fuer Kette, Ritzel, Kraenze, fuer Fingernaegel, Zwiebeln und Knoblauch vermisse. So schiebe ich das Rad abseits in die Buesche, Pferde mustern mich neugierig, ich bin sowieso mehr gelaufen als gefahren und trabe zum Nachtlager zurueck, finde es nicht, bin mir sicher, ein Fahrer hat es im Schnee blitzen sehen und aufgehoben. Als ich zurueck beim Rad bin, geht die Sonne schon wieder unter, im Dunkeln erreiche ich ein Dorf voller verschlossener Tueren, es hat schon wieder minus 23 Grad. Der Dorfladen schliesst fuer mich nochmal auf, ich bin so erschoepft aber froh, denn sie werden mir nun helfen. Ein schweigsamer Jakuti holt mich ab, augenscheinlich nicht sehr begeistert, aber die Kaelte gebietet, sich zu helfen.
Am Morgen sind es dann schon knackige minus 31 Grad Celsius, ich fahre wieder genau die Strasse, auf der ich vor zwei Wochen gekommen bin, ein aergerlicher Bogen, der mich zwei Tage kostet.
Im naechsten Ort besorge ich mir noch Obdachlosenpappe, die ich unter die Matraze legen will, falls ich doch wieder draussen schlafen muss. Auch noch die gute alte Obdachlosenzeitung fuer die Genitalien, ich hoerte schlimme Geschichten von Amputationen allzu "harter" Radfahrer.
Ilja und Alek, zwei junge Moslems aus Kirgistan laden mich zum Uebernachten in ihre Stube ein. Sie verdienen ihr Geld mit LKW-Entladen, Ilja meinte spaeter erklaerend, es waere Suende gewesen, mich nicht mit nach Hause zu nehmen - super...danke...Allah! Zur Nachtruhe baut er seine Matraze zu beiden Seiten wie ein Sarg auf, dass er bloss nicht auf die Seite rollt, natuerlich faengt man so an zu Schnarchen, ich verziehe mich fuer den Rest der Nacht in die Kueche und druecke mir Wachs in die Ohren.

Am naechsten Abend wird mir im beginnenden Schneetreiben angeboten, in einem im Bau befindlichen Tankstellenhaus zu schlafen. Angenehm warm ist es, das schwarze Schaf der kleinen Brigade ist Wolfgang, ein liebenswerter Alkoholiker, der sich bald Geld bei mir schnorrt und schnell wie der kleine Muck zu einer abseits gelegenen Siedlung eilt, um es in Bier zu tauschen. Ich will die Jungs nicht beim Verputzen stoeren, baue meinen Kocher auf, um mir ein Instantsueppchen zu kochen. Ploetzlich faengt auch die Zuleitung Feuer, die Flasche brennt, ich werfe alles auf den Flur, nur weg von meinem Schlafsack und den ausgebreiteten Sachen. Wolfgang ist zurueck, wirft geistesgegenwaertig seine Arbeitsjacke darueber und erstickt die Flammen. Die Jacke hat ein grosses Loch im Teddyfell, doch das stoert ihn ueberhaupt nicht. Ich bin ihm so dankbar, die Flasche haette leicht explodieren koennen. Er ist ein kluger, sensibler Mensch, doch nimmt ihn hier keiner richtig ernst, laesst ihn links liegen oder schimpft mit ihm wegen seinem Bierdurst. Mein Zeigefinger hat eine Verbrennung Zweiten Grades, ich stecke ihn den ganzen Abend ueber in den Schnee, der ja erst zu Eis und dann zu Wasser wird, also optimal kuehlt. Das war dann der letzte Versuch. Seit laengeren bemerkte ich, dass die Pumpdichtung des sieben Jahre alten Kochers poroes geworden ist und leckt. Das Teflonband half nicht, denn mineraloelhaltige Fluessigkeiten greifen Gummi an. Ueber die naechsten vier Wochen suche ich erfolglos solch eine simple Dichtung in den Autolaeden, aber kein Lada, Wolga, UAZ, keine ISCH, keine Zenith, auch kein japanisches Auto braucht diese kleine Dichtung, bei den LKW kann ich mir das Nachfragen gleich stecken. So habe ich im beginnenden Winter nun auch keinen Kocher mehr. Bruder bemueht sich derweil um einen neuen, der mir nach Irkutsk geschickt wird.
Im naechsten Ort stellt mir die Buergermeisterin, die ich unterwegs schon traf, einen Wohnung fuer die Nacht, deren Mieter den Winter in Jakutsk verbringen.
Zwei Hunde laufen am naechsten Tag vierzig Kilometer hinter mir her, wahrscheinlich denken sie, der Mensch wuerde sie ins Warme und zu Futter fuehren, aber da haben sie Pech gehabt, ich weiss ja selber nie, was da vorne auf mich wartet. Erst ein Hund eines berittenen Jaegers bringt, ohne dass der anschlaegt, die beiden zur Umkehr. Zwei Jakuten, ihre Taigatrommel abseits geparkt, unterhalten sich mit ihm, „extremal“ sagen diese rauhen Typen anerkennend zu mir. Sie haben angenehm warme Haende, vom Vodka behaupten sie.
Wochenlang begegnet mir in der Taiga keine Poizei, so wild und frei ist das Land.
Was haette ich nur gemacht, wenn es die Strassenarbeitercamps nicht gegeben haette? Bei denen wird auch nirgendwo getrunken. So bin ich immer wieder ueberwaeltigt ueber die feinsinnigen Maenner dort. Sasha, Jewgeni, Victor und Alexander kuemmern sich liebevoll um meinen Kocher. Sie haben sich ihre Brillen aufgesetzt und schrauben daran herum, aber auch hier findet sich, wie ich’s ihnen schon voraussagte, keine passende Dichtung. Spaeter sitzen sie dann noch jeder fuer sich im beleuchteten Fuehrerhaus ihrer LKW und lesen. - Das ist Russische Seele, ich bin ergriffen. Alexander schenkt mir ein robustes (viel zu schweres) Klappmesser als Ersatz fuer meinen Verlust. Gar nicht sicher bin ich, ob ich es annehmen soll, die abgeschliffene Klinge deutet darauf hin, dass er es schon viele Jahre besitzen muss. Aber ich weiss, es kommt von Herzen, laut Nietzsche ehrt man den Geber auch, indem man sein Geschenk annimmt.

Mal wieder haelt ein UAZ, daraus zwei Maenner steigen und zehn Kinder krabbeln. Sie sind unterwegs zu einem Tischtennisturnier. Wie es sich gehoert, halten die Kinder alle brav und wohlerzogen ihren Mund. Der Fahrer uriniert noch ans Heck und sagt zum Abschied: „Isch liebe disch! - Die Jakuten sind schon lustig!

Einmal laed mich eine Babuschka in ihr halbeingesunkenes Haeuschen. Sie ist ja ganz nett, nur lebt da noch ihr Sohn, der sich bald als Psychopat herausstellt. Er schenkt mir den letzten Schluck Vodka ein und beobachtet mich jetzt gespannt, ob ich nun, wie es Suechtigen eigen ist, versessen darauf waere, mehr zu wollen, aber nichts - keine Regung. Bald moechte er dann 100 Rubel, um eine neue Flasche zu kaufen, denn er haette heute Geburtstag. Naja, das sei also der Preis fuer die Unterkunft, denke ich mir. Kohlsuppe bekomme ich spaeter von der Babuschka, der Typ setzt sich schwitzend neben mich und zeigt mir sein Fotoalbum. Da sind tatsaechlich aus Magazinen ausgeschnittene Schoenheiten eingeklebt. Er zeigt mir seine Frau, seine Tochter, die Bilder sind schwarz-weiss, nach der Mode zu urteilen ueber zwanzig Jahre alt, denn er sass achtzehn Jahre im Knast, wo er zur Schwuchtel gemacht wurde. Kein Wort verliert er darueber, keine Frau und Tochter mehr zu haben, keine Freunde hat er, in der Vodkafalle sitzt er. Der Typ ist mir nicht geheuer, aber jetzt in der Dunkelheit finde ich schwerlich eine andere Bleibe. Nachts laermt und hustet er herum, steht oft auf, seinen Spiegel nachzutrinken, wie ich’s ahnte, zog er sich die 120 Rubel aus meiner Jackentasche an der Garderobe. Darueber klagt die Mutter am naechsten Morgen laut weinend. - Bloss schnell raus hier, schon um acht bin ich auf der Strasse.
Das war gut so, denn es wird ein langer Tag, selbst am einzigen Cafe auf halber Strecke halte ich nicht an, der Aufenthalt haette sicherlich eine Stunde gedauert, denn der einzige, der es hier eilig hat, bin ich. Schneetreiben setzt ein, an langen Steigungen komme ich ins Schwitzen, die Augen verkleben von den festgefrorenen Wimpern, bergab gefriert das Fleece binnen Minuten steif und man kuehlt gefaehrlich aus. Ich versuche es mit Singen, um irgendwie wieder warm zu werden. Es wird dunkel und ich bin immer noch draussen. Das erste Mal hoere ich einen Wolf heulen. Ist heute nicht Allerheiligen?

Nach zwoelf Stunden und 102 Kilometern bin ich endlich in Tommot angekommen. Der Ort hat sogar eine Herberge, die liebe Olga von der Rezeption gibt mir das waermste Zimmer, heiss duschen kann ich, in der Kueche quatschen wir bei Bier und Zigarette - hier bin ich richtig! Sie setzt mir Bratkartoffeln vor, spaeter kommt „ganz zufaellig“ noch eine Freundin vorbei, wir kaufen noch mehr Bier - Vodka ist vorwiegend ein Maennergetraenk - sie bauen einen Kasettenrekorder in der Kueche auf und tanzen ausgelassen, es wird noch eine lange Nacht. Das hat gut getan nach dem ganzen Stress, den Betteleien um Schlafplatz!

Natuerlich pausiere ich hier dann einen Tag, schoen sieht es aus, wie sich die Eisschollen auf dem Fluss tuermen, an anderen Stellen laufen die Kinder Schlittschuh.
Die halbstarke Jugend kotzt mich aber schon wieder an. Staendig in der Gruppe, die Stimmen wie immer vom Alkohol angewaermt, werde ich alsbald nach meinen Finanzen gefragt, denn es entwickelt sich leider auch hier bei der Jugend ein ausgepraegtes Konsumverhalten. Wenn sie dann flapsige Sprueche loslassen, ohne mich dabei anzusehen, rede ich dann ein bischen deutsch, das wirkt wunderbar verwirrend und aus dem Typen wird augenscheinlich ein unsicheres Kind. Die Frauen werden vor allen auf dem Land unterdrueckt, und weil sie’s nicht anders kennen, nehmen sie ihr Schicksal klaglos hin. Kinder bekommen sie Anfang zwanzig oder noch frueher, so ueberstuerzt man dann heiratet, laesst man sich bald auch oft wieder scheiden.
Einer meinte hier zu meiner Reise, ich taete es nur fuer’s Image. Mhm, das hatte ich bisher noch nicht gehoert. Aber es ist interessant, was man sich so alles dabei denkt - nur weiter so! Mein Image jedenfalls - ist weit weg, Jahre entfernt und - schreibt mir auch nicht mehr.
Im naechsten Staedtchen Aldan rufe ich kurz an und schon kommt der liebe Wolodja angebraust. Den traf ich auch unterwegs und musste wieder ein paar „sto gramm“ Vodka mit ihm trinken. Ich befuerchtete deshalb ein Besaeufnis, aber er ist ganz serioes, betreibt ein kleines Fuhrunternehmen, seine Frau setzt uns Essen vor, ganz entspannt trinken wir ein paar Cognac.  Aller vier Monate holt er sich einen nagelneuen Lada aus Jakutsk, den er dann zusammenfaehrt. Sollte er einmal liegenbleiben, hat er im Winter wie die meisten Fernfahrer einen Benzinkocher dabei, um nicht zu erfrieren.  

Von den japanischen Autos haelt er nicht viel, weil es in der Gegend wenig Ersatzteile dafuer gibt.  Halb  Russland wird ja mittlerweile von diesen ueberflutet, die in grossen Containerschiffen die 600 Kilometer von der Insel nach Wladivostok gebracht werden.  Die Rechtslenker sollen verhaeltnismaessig billig zu erwerben sein, aber mit den bestehenden  napoleonischen Verkehrsregeln bleibt durch den groesseren  „toten Winkel“ ein erhoehtes Unfallrisiko bestehen.
Endlich sehe ich einmal Rosa auf einem Foto. Wolodja traf sie letzten Winter auf ihrem langen Marsch. Eine kleine magere Frau ist sie. Schon in Alaska hoerte ich von ihr, den ganzen Weg entlang erzaehlten sie mir von ihr, eine unbekannte Vertraute ist sie fuer mich geworden. Als Rosas Mann starb, machte sie sich mit 57 Jahren auf eine lange Wanderung von ihrer Heimat England aus bis zurueck nach Hause. Zwei Jahre, zwei kalte Winter brauchte sie, um Russland zu durchqueren, mit einem Karren, auf dem sie ihre Ausruestung zog. Sie ist eine kleine Heilige fuer mich. Wahrscheinlich hat sie ihren Mann so geliebt, dass sie selbst den Tod nicht mehr scheute – die beste Voraussetzung fuer so eine Unternehmung.
Wolodja schenkt mir eine kleine Thermoskanne, jetzt brauch ich nicht nur Eiswasser zu trinken. In seiner Garage basteln wir noch aus alubeschichteten Polyethylen Isolierhuellen fuer meine Flaschen und wieder bin ich etwas besser gegen die Kaelte gewappnet.
Ich vermute ja, er hat heimlich beim Lokalfernsehen angerufen, denn als er mich am naechsten Morgen hinausbegleitet, steht an einer Tankstelle winkend eine Frau mit Microphon und ein Kamera-haltender Mann. Zweitausend Kilometer weiter bremst spaeter ein Autofahrer, der mir aufgeregt erzaehlt, er haette mich in Moskau im Fernsehen gesehen!
Der Tag hat wieder minus 30 Grad Celsius dazu noch Gegenwind und auf dieser Brettpiste komme ich nur so langsam voran, dass mir nicht warm wird. Diesmal muss ich sogar ein Paar von den chemischen Fingerwaermern herausholen. Zwei Hunde laufen, mir zur Freude eine Weile in dieser Einoede voraus. Autos begegnen mir fast nicht, weil die Eisenbahn schon bis Tommot fuehrt. Am spaeten Nachmittag haelt ein Kleinlaster, die zwei Jakutis fragen, ob sie mich mitnehmen sollen. Ich bin so fertig, dass ich einwillige. Sie fahren 160 Kilometer weiter bis kurz vor die Stadt Neryngri. Bald bedaure ich meinen Lift erstmalig, weil man hier in dieser weissen Einsamkeit am einzig sichtbaren Gulag entlang der Trasse vorbeikommt. Er rast ziemlich, dass ich schon wieder in Sorge um mein Rad bin. Sie parken auf einer Art Raststaette, die Hydraulik der Ladeklappe versagt bei der Kaelte, das Oeffnen wird auf den naechsten Tag verschoben. Nach einigen Anfragen kann ich bei Sergey im MAZ-LKW  schlafen, er hat eine Doppelstockpritsche und besteht darauf, oben auf der blossen Bank zu schlafen, waehrend ich unten weich gebettet liegen soll. Warm ist’s sowieso, weil die Motoren anbleiben, an den Laerm gewoehnt man sich in diesem Beruf, da man nach einer Weile sowieso schwerhoerig davon wird.
Mit Gaskartusche und Benzin wird das Oel der Ladeklappe am Morgen soweit erwaermt, dass sie wieder aufgeht. Das Rad liegt natuerlich quer, der Rahmen hat ein paar blankgeschliffene Metallstellen, die Lampe haengt zerfetzt am Kabel herunter. Das muss viele boese Schlaege gegeben haben, so direkt ueber der Hinterachse – alles hat eben seinen Preis.

Als ich in die Stadt fahre, bemerke ich einen Platten im Hinterrad. Bei minus 22 Grad wechselt man dann gleich den Schlauch, weil ein Flicken sowieso nicht halten wuerde, selbst die Luftpumpe zieht bei dieser Temperatur nur schlecht.
In der Herberge mustern mich die Arbeiter nur stumm und hart. Ich besorge mir eine Skibrille, damit mir die Augen im Wind nicht mehr traenen. Viel Schnee faellt, etwa einen Meter hoch tuermt er sich am Strassenrand auf, ein Raetsel, wie ich da vorwaertskommen soll. So muerrisch und verschlossen wie die meisten Leute in der Stadt scheinen, bin ich froh, als ich weiterfahre. Die Strasse ist natuerlich ungeraeumt, man entschuldigt sich immer, nicht genuegend Kehrmaschinen zu haben.
Igor treffe ich unterwegs mit seinem Gehilfen Boris, welcher stottert, seit er im Tschetschenienkrieg war und nun von kleiner Soldatenpension lebt, ich solle heute den Abstecher nach Solotinka machen und bei ihm zu Hause schlafen. Ein Fallensteller stapft aus dem tiefen Wald, den Rucksack voller Zobelpelze.
Igors Mutter erwartet mich bereits im zweiten Stock der Wohnsiedlung und setzt mir Suppe, zarte Schnitzel und Salat vor. Seine Frau ist gerade mit der Bahn verreist. Igor selbst kommt spaetabends. Er ist Monopolist des Ortes, hat hier wie in Neryngri einen Lebensmittelladen, ueberfuehrt manchmal einen Mercedes von Deutschland hierher. Sie kommen alle aus dem schoenen Weissrussland, irgendwann wollen sie dorthin zurueckkehren, es sei eben sein „Vaterland“. Im naechsten Ort hoere ich, es gehe ihm so gut, dass er in Neryngri eine Zweitwohnung mit Zweitfrau und Kind hat.
Auf dem Weg dorthin weihe ich gleich die neue Brille ein, denn es stuermt. Erschrocken entdecke ich ein paar Achten im Hinterrad, versuche sie halbwegs rauszuziehen, denn bei diesem Wetter muss man unbedingt weiterkommen zur naechsten Behausung. Ein schlimmer Tag, die Sicht wird in dem Schneegestoeber immer schlechter, bergab rutsche ich nur. Igor wollte mich ja noch im Transporter herbringen, schuettelte nur bedenklich den Kopf, als ich ablehnte. Endlich im Dorf, werde ich ein wenig durch die Gegend geschickt, bis sich schliesslich Sergey erbarmt und mich zu sich in seine meteorologische Station mitnimmt, wo ich im Arbeitszimmer bleiben kann. Die naechste Messung am Abend ergibt hier im Tal eine Windgeschwindigkeit von 20 Meter pro Sekunde. Der naechste Tag zeigt sich nicht besser, missmutig schraube ich ein wenig am Rad herum, der geduldige Sergey fuettert mich zweimal am Tag mit einer Schale Reis und Ziegenfleisch. 40 Jahre arbeitet er schon als Meteorologe, war in den entlegensten Gebieten Russlands im Dienst. Die Ehe scheiterte, weil seine Frau zu trinken anfing, sein Sohn ist Vaters ganzer Stolz, der gehe bald studieren.
Ich ahne ja, dass mit der Felge etwas nicht in Ordnung ist, so urploetzlich sie verbogen war, endlich ueberwinde ich mich am Abend und baue sie aus. - Sechs Oesen fallen mir entgegen. Zum Glueck schleppte ich seit Fairbanks eine Ersatzfelge mit herum. Beim Einspeichen merke ich dann, dass ich die eigentlich noch recht neue Felge in Whitehorse auf einer Seite an diesen sechs Oesen falsch gekreuzt hatte, hier beim Rudern im Tiefschnee machte sich der Fehler dann bemerkbar. Zu meiner Reputation muss ich erwaehnen, dass ich seitdem noch in vier Radlaeden in Kanada und Alaska war, die Felge nachzuzentrieren, da sie nie richtig mittig war, doch niemanden fiel der Fehler auf. Nachts um zwei bin ich dann endlich zufrieden mit meiner Arbeit und lege mich schlafen.

Am naechsten Abend lande ich in einem Bauverschlag, einer ehemaligen LKW-Garage. Ein widerlicher Typ kommandiert dort andere Maenner, die seltsamerweise alle kuschen. Er hat die Idee, aus diesem abbruchreifen Gebaeude ein Hotel zu zaubern. Zunaechst fehlt es ihm aber an Zigaretten, die er mir klaut und frech behauptet, rauchen sei ja schlecht fuer mich. Weitere Zweifel kommen auf, als er nach dem Abendessen aus leckerem Hirschragout mit Baerenschmalz angebraten, mit der Schrotflinte durch den Raum schiesst. Spaeter soll ich noch eine Bierflasche im dunklen Korridor von der Taschenlampe ausgeleuchtet, abschiessen. Im Raum kleben sogar demonstrativ halbnackte Maennerbilder direkt unter der Ikone, dabei ist Homosexualitaet in Russland offiziell aeusserst verpoehnt. Immerzu will er mit seiner Hasenscharte bestaetigt werden und aergert sich, dass ich ihm nicht huldige. Seine Finger sind taetowiert, ganz sicher stammt das aus seiner Knastzeit. Ich hoerte damals von Gena, die Haeftlinge haetten sich oft die Brust und den Ruecken mit Jesus und Lenin taetowieren lassen, das erhoehte die Fluchtchancen, denn man wuerde schliesslich nicht auf ihr Abbild schiessen.
Tynda ist dann eine weitere junge Stadt, die als Knotenpunkt der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) entstand. Als ich nach einer Stunde vergeblicher Suche nach einer preiswerten Unterkunft wieder an dem kleinen Markt stehe, mustert mich geraume Weile ein Mann, der mich schliesslich zu einer Herberge fuehren will. Unterwegs meint er dann, er haette ein freies Zimmer, wo ich bleiben koenne. Es ist Andres Liebesnest, denn eigentlich ist er – zum dritten Mal – verheiratet. Dort im Plattenbau wohnt aber noch ein Suffpaar, ich solle mein Zimmer immer abschliessen, wenn ich rausginge. Er fuehrt mich noch ein bischen herum, fragt fuer mich nach einem Internetladen.  Dabei hat er die Angewohnheit, immer recht ansehnliche junge Frauen anzusprechen, indem er sie gleich am Oberarm packt, um ihre volle Aufmerksamkeit zu bekommen.
Wie er, ein gebuertiger Ukrainer, sehen auch die meisten Russen verlebter aus, als ihre Jahre verraten. Neben dem Vodka und den Zigaretten hinterlaesst sicherlich auch der lange Winter seine Spuren, sowie der hohe Fleischkonsum, welches bei diesem Klima die beste Energie liefert. Die durchschnittliche Lebenserwartung betraegt bei den Maennern gerade mal 57 Jahre, die der Frauen liegt bei 64 Jahren. Man lebt und reift also schneller und MUSS deshalb mehr geniessen!
Am naechsten Tag gehen wir mit seiner Frau zum Chinesen, wo man sich, wie in vielen Speisegaststaetten Russlands, seine Getraenke selbst mitbringen kann. Dann gibt es aber auch Lokalitaeten, wo man sich besser sein Essen mitbringt, denn es werden nur Haeppchen serviert zum Trinken oder aber man trinkt einfach zuviel fuer einen Restaurantbesuch. Der Ausflug ins Theatercafe wird eher aergerlich, weil die angetrunkenen Leute vom Nachbartisch mitbekommen, ich sei ein Deutscher, der Schuld am Krieg haette. Vor allem ein junger Mann brueskiert sich und stellt sich an unserem Tisch auf. Ich verstehe leider nichts davon und meine beiden Freunde verhalten sich auch diplomatisch zurueckhaltend, aber gerne haette ich mich mit diesem Typ noch alleine vor dem Cafe unterhalten.
Bei Natascha und Andre zu hause muss ich mir noch saemtliche Fotoalben anschauen, waehrend seine Frau den Tisch mit Leckereien belaed. Zum Essen leeren wir dann noch eine Flasche Vodka.

Anstatt entlang der Magistrale zu fahren, waehle ich den falschen Weg und fahre weiter nach Sueden. Gleich hinter Tynda baut der Erdoelriese „Transneft“ vom Nordenosten Sibiriens aus eine neue Pipeline zum Pazifik, um Japan, Suedkorea, China und Australien mit Oel und Gas zu versorgen. Die Ingeniere und Arbeiter in diesem moderen Containerdorf kommen alle aus dem europaeischen Teil des Landes. Auch der Maschinenpark besteht ausschliesslich aus nagelneuen KAMAZ-Maschinen. Dass ich hier unterkomme, haette ich nicht gedacht. Ein junger Geologe laed mich mit anderen ein, den ersten Geburtstag seiner Tochter mit drei Flaschen Vodka zu begehen. Den naechsten Tag fahre ich laecherliche 28 Kilometer zum naechsten Pipeline-camp, ich solle hierbleiben, sagt man mir, weil fuer die naechsten 80 Kilometer nur Wald kaeme. Das  ist mir recht, da der wahnsinnige Filipowitsch im Container letzte Nacht so gesaegt hat, dass ich gerademal drei Stunden mit Unterbrechungen schlafen konnte. Der Boden war mit wichtig aussehenden Papieren bedeckt, die Putzfrau loeste am Morgen das Raetsel, als sie darunter sein Erbrochenes aufwischen musste, naja, es war eben Wochenende.
Juri, Brigadier aus Krasnodarsk, ueberlaesst mir hier tatsaechlich einen ganzen Bauwagen, so einen mit Chefausstattung, Innentoilette, Kochgelegenheit und abgetrennten Schlafbereich. Er erzaehlt, Chef des Unternehmens sei ein gewisser Weinstock, wie Abramowitsch aeusserst einflussreiche Olygarchen in Putins Regierungssystem, ohne die es diesen Praesidenten wahrscheinlich gar nicht geben wuerde.
Morgens gibt es dann noch ein spontanes Fotoshooting mit dem Radfahrer. Es ist mein kaeltester Tag. Die Skala meines Thermometers reicht nur bis minus 30 Grad, die Fluessigkeit hat sich in der Mulde zusammengezogen, vielleicht sind’s minus 40 Grad, vielleicht mehr.  Die Kette dreht oft einfach durch, weil das Oel nur bis minus 30 Grad schmiert, es laesst sich nur schwer schalten, die Tachoanzeige verabschiedet sich, ein Plasteteil der Packtasche bricht weg wie Glas. Acht Stunden spaeter habe ich das naechste Dorf erreicht und erbete mir einen Platz in der LKW-Garage.

Noch ein paar Bergzuege, dann komme ich in eine Ebene, wo die „Trassa Lena“ endet und auf die Trasse Wladivostok-Moskau trifft. Das Taigaflair ist hier vorueber. Die Doerfer und Siedlungen sind mit der Transsibirischen Eisenbahn verbunden. Jedes zweite Auto auf der Trasse ist ein japanisches, welches von Wladivostok kommend, von den unzaehligen Autoueberfuehrern in etwa acht Tagen in die Moskauer Region ueberfuehrt wird. Wenn man mal wegen mir anhaelt, so ist’s meist aus der Entfernung, man schiesst ein Foto von herannahenden Fahrradmann und faehrt weiter, ohne ein Wort mit mir gewechselt zu haben. Ein ganz anderer Menschenschlag findet sich hier, eher aengstlich und verschlossen, vom Transitverkehr beeinflusst.

Die Trasse wurde erst neu gebaut, was mich erfreute, da ich mir einen guten Zustand versprach, doch als ich darauf fahre, stelle ich fest, dass sie an allen Doerfern vorbeifuehrt, sehr steinig ist und wenig geraeumt. Die Temperaturen bleiben immer haeufiger unter minus 20 Grad, man muss staendig in Bewegung bleiben, um nicht auszukuehlen, die kurzen Pausen sind ausschliesslich fuer den Energienachschub: Schnell etwas essen, einen Schluck trinken und weiter geht der Holperritt. Mit Geniessen hat es wenig zu tun. Ich bin muede vom taeglichen Anklopfen an fremde Tueren, auch damit, mich mit allen Umstaenden, nur des warmen Plaetzchens wegen abzufinden, gerade wuerde ich gerne fuer hundert Jahre schlafen. Eines langen Tages sage ich mir in der einbrechenden Dunkelheit, ich werde nun solange das Rad auf dieser Steinpiste foltern, bis es bricht, nur um einen Grund zu haben, den Zug zu nehmen, denn die Distanzen sind auf diesem Teilstueck so gross, dass man mit langsamer, der Piste angemessener Fahrt immer in die Nacht fahren muesste, bis man eine naechste Siedlung erreicht hat. Spaetabends komme ich dann endlich zu einem Strassencafe, wo ich in der Sauna uebernachten soll, aber erst zwei Uhr nachts, wenn keine Gaeste mehr zu erwarten sind. - So geht das nicht, die Situationen engleiten mir immer oefters, ich brauche meinen Schlaf beim taeglichen Leistungssport, wie soll ich in einer Sauna bei dieser Feuchtigkeit uebernachten? Die drei Maedels vom Cafe lassen mich schliesslich in ihrer kleinen Behausung schlafen. Ich ueberdenke die Lage und meine, ich sollte doch lieber den Zug nehmen, bevor das Rad auseinanderbricht. Natuerlich raten mir auch die Maedchen dazu, wie es weibliche Art ist.

 

Ich lasse mich also („Halb zog sie ihn, halb sank er hin.“) bereitwillig ueberreden, meine Moral ist, wie angedeutet, seit einiger Zeit sowieso angeschlagen und fahre den naechsten Tag in den 15 Kilometer abseits gelegenen Ort mit Bahnanschluss, gebe dort mein Rad auf - schweren Herzens ab, hoffe, es in Tschita, einer groesseren Stadt, etwa 900 Kilometer weiter westlich, wo der Asphalt beginnt, wiederzubekommen. Dann sitze ich also auch in der beruehmten Transsibirischen Bahn, machte leider den Fehler nicht „Erste Klasse“ gebucht zu haben, denn gerade in meinem offenen Abteil betrinken sich seit zwei Tagen Zeitsoldaten, die auf Heimaturlaub fahren. Sie sehen alle aus wie „Pittiplatsch“ sind kahlgeschoren wie die Schafe, nur vorne haben sie einen kleinen Harrbueschel stehen, spaeter erfahre ich, das sei hier Skinhead-Mode und genauso so dumm verhalten sie sich auch. Im Suff versucht der groesste Stoerenfried mit zerbrochener Nase die anderen anzustacheln, ich als Deutscher sei Faschist. Mehrmals muss ich mitten in der Nacht laut werden, sie sollen endlich Ruhe geben, da der ueberwiegend weibliche Rest des Waggons natuerlich beflissentlich schweigt.
Nach 22 Stunden bin ich dann in der Stadt, aber nicht mein Rad, sagt mir die unfreundliche Frau der Gepaeckaufbewahrung und will mich loswerden. So leicht lasse ich mich nicht abfertigen und warte, bis die Bahnpolizei anrueckt, die hoeren mir wenigstens zu. Man telefoniert herum und findet heraus, es sei immer noch im Ausgangsort, wuerde aber sicherlich am naechsten Nachmittag ankommen.
Ich koennte in einem abgestellten Waggon ein Schlafabteil fuer fuenf Euro mit anderen teilen, aber moechte unbedingt duschen und Sachen waschen und ausschlafen, was mich dann in einer anderen Herberge gleich 20 Euro mehr kostet: Troepfendusche im Nachbarzimmer, Schuesselwaschen, die Sachen anschliessend mit meiner Baerenleine im Zimmer aufhaengen, dass Fenster, Boden und Lunge beschlagen.  

Mein geliebtes Rad kommt dann wirklich an, ein guter Tag! Man hat die Reifen und die (nun absolute Not-) Felge (ich trenne mich ungern von meinen paar Sachen) sogar nochmal in fusseliges Tuch eingewickelt, den wieder abgebrochenen Spiegel haben sie umsichtig mit Gummiband am Lenker befestigt.
Es ist nicht so kalt, dafuer ziemlich windig, nur wenig Schnee liegt. Mein Eindruck hier in der Zivilisation ist, sie sind hier locker zehn Jahre zurueck, das laesst sich auch nicht durch rasante Fahrweise schneller japanischer Autos aufholen, sondern gelaenge schliesslich nur, wenn man schneller als das Licht waere. Ich finde keine Strassenkarte, der Umgang mit dem Internet ist den meisten fremd, Lebensmittel besorgen die Frauen, gehen Maenner in die Laeden so kaufen sie fast ausschliesslich nur Alkohol. „U nac nieto!“ – „Ha’m wa nich!“ hoere ich so haeufig und vorwurfsvoll wie damals im „Osten“, weil sich dann auch noch alle anderen nach mir umdrehen, mich stumm mustern, gewoehne ich mir eine tiefe, uebertriebene Verbeugung gegen diesen visuellen Spiessrutenlauf an, bei der ich natuerlich auch die Muetze ziehe. - Um den Situationen noch etwas Komik abzugewinnen, bin ich bin leider oft genug gezwungen, den Selbstunterhalter zu spielen. Man muss sich ja schliesslich irgendwie motivieren.

 

Jetzt sind es noch 1050 Kilometer bis Irkutsk. Minus 13 Grad tagsueber lasse ich mir gefallen, in hartes Maennerschweigen fluche ich auf Deutsch hinein, zum Glueck sind die meisten Frauen umso freundlicher. Die Strasse fuehrt bis auf Tankstellen, Autoteilelaeden und Imbissen auch weiterhin an den Doerfern vorbei, aber zumindest ist sie, wenn auch schlecht, asphaltiert, und ich komme besser voran. Mal schlafe ich bei Chinesen in der Baustelle, wo mir erstmalig die Idee kommt, doch nochmal nach China zu fahren, dann wieder in einer Herberge, bei der Dorfadministration oder auch privat. Es gibt wenig Arbeit hier, viele leben von Stuetze, ich will wieder etwas nachsichtiger mit ihnen sein, wie viele mich als reichen Touristen ansehen, ihre Frustration im Vodka ertraenken. Wenn ich im Dunkeln ankomme, schlaegt man dem seltsamen Typen mit Eiszapfen am Kinn auch schonmal die Tuer vor der Nase zu. Ich lerne, dass trotz der Weite des Landes, Wohnraum vor allem im kalten Winter limitiert ist. Meist schlaeft der Durchreisende mit anderen im Mehrbettzimmern. Einmal laesst man mich zwei Stunden in einem Ueberlandcafe mit meiner Uebernachtungsanfrage warten, schliesslich darf ich zumindest mein Rad dalassen, und ein netter Mann im UAZ-Gelaendewagen nimmt mich nachts 20 Kilometer zur naechsten Ortschaft mit zurueck, wo ich schliesslich bei einem Pfoertner im Haeuschen schlafen kann. Eine Taigatrommel bringt mich dann gegen Taxipreis am naechsten stillen Sonntag zurueck. Taigawald ist spaerlich, meist fahre ich durch offenes windiges Gelaende, brachliegende Felder ziehen sich durch das breite Tal. Tiefe Augenringe habe ich, dunkle Stellen an den Wangenknochen lassen auf leichte Erfrierungen schliessen, ein grosser Zeh und die Kuppe vom Mittelfinger sind taub, ich wuensche mir, gesund in Irkutsk, meinem Winterlager anzukommen. Dahin fahre ich eigentlich nur , weil zwei Pakete dort auf mich warten sollen, sonst wuerde ich lieber gleich nach Sueden, raus aus der Kaelte. In der kleinen Stadt Petrowsk Sabaikals, halten mich erst zwei Polizisten aus Neugierde an und eskortieren mich dann ins Hotel, legen fuer mich Wort ein, dass man mich freundlich aufnimmt. Andre, der eine sieht mich aechzend das Rad die drei Stockwerke raufschleppen, oben schultert er mich an Arm und Bein, wie ein Leichtgewicht, beweisst, was fuer ein Baer er ist und endlich kann ich mal wieder herzlich loslachen. Wenn es Probleme gaebe, solle ich nur bescheid sagen, meint er zum Abschied. Es ist das erste Hotel, indem ich bei lauschigen 11 Grad Raumtemperatur Handschuhe trage, Duschen gibt es nicht, Warmwasser kaputt - das ist ihnen 15 Euro wert.

Vor Ulan-Ude ist die Strasse voellig vereist, ein Wolga haelt und man fuehrt mit mir ein kurzes Interview fuer’s Lokalfernsehen, schon braussen sie weiter und ich bleibe kopfschuettelnd zurueck. Die Haeuschen sind huebsch im Stil der Gegend gehalten, ganz aus Holz, vorwiegend blau angemalt, aber wenn ich mir vorstelle, in jedem Haus steht die Vodkaflasche auf dem Tisch, verschwindet diese Idylle gleich wieder.
Ulan-Ude ist die Hauptstadt der Buriaten, welche schon einen mongolischen Einschlag haben. Auch hier torkelt man zum Wochenende gerne herum. Im Nachbarzimmer der Herberge, schreit eine Frau in Delirium tremens stundenlang herum, dass der Mann sie schliesslich schlaegt, die Polizei die beiden bald darauf abholt. Auf dem zentralen Leninplatz ist man dabei, Eisfiguren als vergaengliche Winterkunst aus grossen Bloecken zu meisseln und zu saegen. Am zweiten Tag fahre ich weiter und bald blicke ich dann zum ersten Mal auf den Baikalsee, dem groessten und tiefsten Binnensee der Erde. Leider ist er noch gaenzlich eisfrei, dass ich besser nicht versuche, ueber den See zu fahren.
So fahre ich den Bogen herum, nach weiteren fuenf Tagen bin ich am 15ten Dezember dann endlich in Irkutsk angekommen. Ich frage mich zu einer preiswerten Herberge durch, im Vier-Bett-Zimmer mit anderen Fernstudenten der Eisenbahn mache ich es mir einigermassen bequem und langsam freunde ich mich mit einigen an, doch kann ich mir noch nicht vorstellen, in diesen Raeumen ohne Privatsphaere den Winter zu verbringen. Ich versuche also ein kleines Appartment oder auch nur ein Zimmer fuer etwa drei Monate anzumieten. Doch da muss man sehr flink sein, den Anbieter am besten gleich nachts nach dem Erscheinen des neuen Anzeigeblattes aus dem Bett klingeln. Ich wuerde endlich auch gerne Russisch lernen, als Gaststudent auf einer der zwei grossen Unis der Stadt, dafuer braucht man aber eine polizeiliche Registrierung, die ich nun, so kurz vor den Ferien zum neuen Jahr nicht mehr bekomme. Weihnachten begeht das orthodoxe Russland ja gar nicht. Kurz vor Silvester sind dann auch alle liebgewonnenen Leute der Herberge zurueck bei ihren Familien und das Haus steht fast leer. Zeit zum Reflektieren.


Vielen Dank fuer’s Lesen,

Matthias.

 

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