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                                                                                                                                         La Paz, August 2004

Lieber Leser!

 

 

Dann schaffe ich es heraus aus Buenos Aires, voller Zeitloecher sind solche Orte, man kann sich nur hueten, einen Bogen darum machen oder sich anziehen lassen, geraden Weges alle Dinge annehmend, die sich anbieten, aus irgendwelchen unergruendlichen Gruenden. Es sind immer kurze Naechte vor so einem kleinen Neustart, in denen mir noch hundert Kleinigkeiten einfallen. So muss ich, nachdem ich mich endlich auf Seitenstrassen aus dem Grosstadtmob herausgewunden habe, um die gefaehrlichen Autobahnschleifen zu vermeiden, auf einem Bordstein sitzend erst mal wegdaemmern. Dann kommt ein netter Opa vorbei, schenkt mir ein paar Bonbons und seine suesse Enkelin ein Abschiedskuesschen, das mich beschwingt weiterfahren laesst. Solche einfachen Leute beweisen oft Charme und Herz, besser als die Reichen verstehen sie es, sich den Tag durch solcherlei Kleinigkeiten zu verschoenern.

 

Spaeter treffe ich dann noch Juan auf der sonntaeglichen Spazierfahrt, sein chinesisches Rad ist mit Wimpeln und Katzenaugen verziert, dazu zeigt er mir stolz die installierte Stereoanlage von einer Mopedbatterie gespeisst, ja selbst Angel und andere Notwendigkeiten haben Platz auf seinem Stueck Freiheit gefunden. Er haelt gerade, beobachtet Voegel im Schilf, erzaehlt mir, sie haetten ihn letzte Woche in seiner gruenen Kleidung ganz nah herankommen lassen, heute mit anderen Sachen eben nicht. So zufrieden scheint er, sich damit beschaeftigend, die Sprache der Natur besser zu verstehen, laesst mich innerlich herzlich lachen.

 

Spaetnachmittags quaele ich mich ueber zwei riesige achtzehn Kilometer auseinanderliegende Bruecken, die ueber die beiden Arme des Rio Paraná fuehren, bevor er ein Stueck weiter abwaerts ins Delta zerfliesst. Hier ueberhole ich noch einen tragischen jungen Wanderer, barfuss, gepaecklos, in zerissenen Hosen, auf seinen langen Weg, Arbeit zu finden, dem gebe ich ganz ungebeten Wasser und Salzkekse, bevor ich mich mit Kloss im Hals davonmache. Alles ist hier ziemlich versumpft, und ich brauche eine Weile, bis ich schliesslich noch einen Platz fuer's Moskitonetz bei der Strassenpolizei bekomme. Denen reisse ich dann ihr verrottetes Waschbecken von der Wand, dusche mich an der Zuleitung, bis ich diese endlich mit Holzstoeckchen notduerftig stopfe kann. Dann druecke ich mir die Ohrenstoepsel, diese segensreiche Erfindung, tief in den Kopf und lass es gut sein, mein Tagewerk. Drueckend heiss wird es die naechsten Tage, ich ziehe mal wieder den Turban gegen die Hirnerweichung auf, dabei glaettet sich naemlich die Hirnrinde, verliert so an ihrem furchenreichen Volumen und dann kann man noch schlechter nachdenken, das hab ich  im sonnigen Afrika gelernt.

 

Um den Schwerverkehr Richtung Brasilien zu umgehen, suche ich mir eine Nebenroute, finde mich alsbald zwischen Mais-und Rapsfeldern auf recht schlechten, aber ruhigen Strassen. Leider ist mal wieder alles eingezaeunt und ich erfrage mir auf kleinen Raststaetten, Tankstellen oder Bauernhoefen meinen Zeltplatz. Es ist immer das Gleiche, nie komme ich frueh genug zum Schlafen, denn etwa ab ein Uhr nachts messen sich die Haehne der umliegenden Gehoefte an ihrer Kraehstaerke, der eine metert los, darauf fuehlen sich die anderen provoziert und geben ebenfalls ihr Bestes, der letzte Schreihals kann sich dann fuer die naechste Stunde als Oberhahn fuehlen, bis dieser Fluch fuer mich wieder losgeht. Dazwischen klaeffen dann die Koeter um die Hoheit der Nacht. Der Mensch hat sich offensichtlich viel von den Tieren abgeschaut, bestaetigt die Fabeldeutung ganz individuell durch seine Gehabe. Morgens fragen mich die Besitzer oft floskelhaft, ob ich denn gut geschlafen haette, ich sag dann immer etwas zerknirscht, wenn es nach mir ginge, wuerde ich hier jeden Tag Haehnchen essen, dass sie mich darauf unsicher anlaecheln. Jedes Mal nehme ich mir vor, einen Platz abseits dieser Laermquellen zu finden, allein es klappt nur sehr selten.

 

 Nach Regen fluechten oft viele Tarantel-Spinnen auf die Strasse und lassen sich dort zerfahren, einmal posiert sich eine Giftschlange in Drohgebaerde vor mir, ich komme gerade noch zum letzten Foto und schon matscht ein Auto drueber - Agonie und Tod, der ganze Aerger wegen mir! Bischen mulmig ist mir, wenn Blitze in dieser Schwuele in meiner Naehe einschlagen, ob mir hier das Fuerchten gelehrt werden soll oder eher mein Vertrauen gestaerkt?

 

Bald ist dann fuer viele Tage der Paraná mein Gefaehrte, traege, breit und schlammig fliesst er dahin, ab und zu schwimme ich vorsichtig ein bischen mit der starken Stroemung. Anhand der Koeder, der Angelhaken, die sie entlang der Strasse verkaufen, muss man hier grosse Fische fangeln koennen und Piranhas, die eher im Fernsehen gefaehrlich erscheinen.

 

Die Provinz Corrientes ist das Armenhaus des riesigen, vielgesichtigen Argentiniens. Bezeichnender Weise kamen hier die meisten der 300 Soldaten her, die im Falklandkrieg ihr Leben liessen. Kinderreiche Familien gibt es haeufig, einmal zelte ich bei einem Tabakbauern, der mir mit Alkoholfahne wieder seine Misere erklaeren will, seine zwei Soehne aufzaehlend, die sieben Toechter unterschlagend, die mit seiner Frau, einer zahnlosen Alten von vierzig Jahren die ganze Arbeit machen, er sich dagegen am naechsten Morgen ohne Abschiedsgruss von ein paar Bekannten zum Fischen abholen laesst. Verhuetung ist hier schon wieder ein Fremdwort, der Machismo dominiert aufgrund von eminenten Bildungsdefiziten. Manchmal muss ich auch schon mehrmals fragen, werde argwoehnisch von Halbstummen abgewiesen, bevor ich mein Zelt aufstellen kann. Es ist immer ein wahrer Kraftaufwand, nach so einem Radtag von hundert und mehr Kilometern noch diese ganze Campinggeschichte durchzuexerzieren: Aufbauen, Rumkramen, Auspacken, Kochen, Uebersicht halten, Wegraeumen, Koerper-und Radpflege, viele kleine Arbeiten, bis man am naechsten spaeten Vormittag endlich weiterrollen kann.

 

Durch das feuchtschwuele Klima beguenstigt, hat es wieder viele Insekten hier, vor dem Schlafengehen hole ich mir immer erst noch blutige Haende beim Mueckenklatschen im Zelt, grosse Kaefer krabbeln umher, Stabheuschrecken torkeln in Mimikri, alles gutes Futter fuer die dicken Ochsenfroesche, die die Lausebuben manchmal, mir Herzkraempfe bereitend, volley nehmen. Die Leute sind jetzt wieder sehr freundlich, mal schenkt man mir Fruechte, weist mir die Dusche und laesst mir keine Ruhe. Einmal werde ich auf weiter Flur vom Blitzgewitter ueberrascht, gelange voellig durchnaesst endlich zu einem Ort, dort kuemmert sich Hector und seine Familie um mich mit Essen und Unterkunft, tags darauf gehen wir auf erfolglose Krokodilsuche, aber endlich sitze ich mal auf einem gutmuetigen Gaul, freue mich die ganze Zeit kindisch, wie er mich durchs hohe Gras schaukelt, hier im Land der Gauchos, wo Reiter mit breitkrempigen Hueten auf ihren Pferden noch ein ganz gewoehnliches Bild abgeben. Hector schenkt mir noch ein Shirt von der Gegend, im Auto begleiten sie mich noch ein Stueck heraus - sind das liebe Leute!

 

Dann erreiche ich die Provinz "Missiones". Wie der Name verraet gibt es hier, wie auch im angrenzenden Paraguay und Brasilien insgesamt siebzehn laengst ruinierte Missionen. Moenche des Jesuitenordens bauten diese in der ersten Haelfte des siebzehnten Jahrhunderts. Zur Seite standen ihnen die treu ergebenen Indios, man buerdete sich ein hartes Leben auf, getragen von der Idee, sich eine neue Welt in Gottergebenheit zu schaffen. Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts wurden sie aufgrund von Eroberungskriegen verdraengt, ihre Klosteranlagen dem hungrigen Zahn der Subtropen ueberlassen.

 

Jetzt muss ich zurueck auf die grosse Hauptstrasse, die erst spaeter einen Randstreifen bekommt, bin wieder manchem ruecksichtslosen Fahrer ausgeliefert. Unvergesslich, wie so ein LKW mit Anhaenger am spaeten Nachmittag des Ostersonntags mit zehn, zwanzig Zentimetern an mir vorbeidonnert, gleich danach ein Pick-Up mit Motorbootanhaenger mich ebenso knapp verfehlt, dabei noch hupend, als haetten sie die bessere Lebensberechtigung. Ich fluche ein paar Polizisten an, was sie hier kontrollierten, wo gerade jeder Zweite besoffen fahren wuerde. Joachims Gedanken einmal auffassend, der meint, Autos haetten was Teuflisches, muss ich ihm doch immer mehr recht geben. Schadstoffausstoss, Windvermehrung, Laerm und deren Auswirkungen sollen bei dieser Betrachtung ausser acht gelassen werden. Desgleichen auch der Faktor Bodenverdichtung durch ein immer umfangreicheres Strassennetz in engbesiedelten Gebieten, was dazu fuehrt, dass Regen nicht mehr absickern kann, sondern nur noch abfliesst - in betonierte Kanaele, um so noch reissender fuer die naechste Ueberflutung zu sorgen, wie es mir Joachim erklaerte. Nein, es soll eine rein menschlich betrachtet werden: Je groesser, schneller, teurer das Auto, umso verbissener, ueberheblicher schaut des Fahrers Gesicht, desto ruecksichtsloser benimmt er sich, hier haeufiger, als im Schilderwald europaeischer Strassen, bis er hinterm Lenkrad hervorkrauchend, als Zivilist wieder auf seine eigentliche Groesse zusammenschrumpft. Ich waere fuer ein psychatrisches Gutachten zur Erlangung der Fahrerlaubnis, das alle paar Jahre wiederholt werden muesste. Streng kategorisiert nach seiner geistiger Zurechnungsfaehigkeit duerfte der Anwaerter eben Bus, LKW, PKW, Moped fahren, nur Fahrrad lenken, zu Fuss gehen, oder sich chauffieren lassen. Es kann doch nicht sein, dass jedes Weichhirn nur aufgrund seines Geldbeutels oder seines fahrerischen Berufes berechtigt ist, im PS-starken Gefaehrt, seine Komplexe verscheuchend, den Rest auf der Strasse zu jagen. Aber da haengt soviel Wirtschaft dran, die ja immer wachsen "muss", keine Ahnung warum, die auf die ganzen zahlungswilligen Schwachkoepfe nicht verzichten kann. Hier zeigt jeder sein "Moechtegern-Gesicht", bestaetigt sein tierische Herkunft. Transporterleichterung und Zeitersparnis verlieren an Glaubwuerdigkeit hinter dem ethischen Gedanken, es ist immer mehr ein Wahnsinn auf den Strassen. Wer hat nicht schon alles einen Menschen aus seinem Vertrautenkreis im Strassenverkehr verloren, wer belud sich deswegen nicht schon alles mit Schuld. Keiner hat je auf meinen Fingerzeig, meine Faustschuettelei angehalten, oder ist auf mein Winken aus seinem Fuehrerhaus gestiegen, nur mal ein ehrenwerter Spanier in seinem Land, einen Baseballschlaeger aus dem Kofferraum hervorzaubernd. Der Leser sei hier aufgefordert, mich in meinem Gezeter zu ignorieren, als ginge ihn das alles nichts an, indem er sich umsichtig, ruecksichtsvoll, eben als Menschenfreund im Strassenverkehr und sonstwo darstellen moege. In meinem Aerger und Zweifel wuerde ich doch auch immer gerne eines Besseren belehrt.

 

Auf viele Deutschstaemmige trifft man in Missiones, oft verwirrend blond und hellaeugig. Manche Bauern, mit denen ich mich hier in meiner Muttersprache unterhalte, erscheinen mir durch ihr arbeitsreiches Leben wie devot, so abgehaermt sehen sie aus, keine Spur vom "Herrenmenschen" leben sie hier Tugenden von Fleiss und Anstand, die in Deutschland laengst verpoent sind, dort, wo fast niemand mehr an diese Siedler der alten Welt denkt.

 

Die kommenden dreihundert Kilometer fuehrt mich die meist schnurgerade Strasse durch waldreiche Gebiete, staendig geht es bergauf und bergab mit mir, die Bierpause in dieser Hitze wird zur willkommenen Pflicht, um den Mineralienhaushalt aufzufrischen. Gut gekuehltes Pilsner geht hier in der Ein-Liter-Glasflasche zum Fairpreis von etwa sechzig Eurocent ueber den Ladentisch. Kurz vor den Iguazu-Wasserfaellen treffe ich dann Joachim wieder, der gerade von einem Freund aus Paraguay kommt. Auf den letzten Tag meines Visums schauen wir uns dann das Spektakel an, mit welcher Wucht das Wasser aus 48 Zufluessen hier ueber 275 Kasakden faellt, einem Teppich gleich, 1700 Kubikmeter pro Sekunde, danach erst zaehlt man die Victoriafaelle und viel spaeter die Niagarafaelle auf.  Dieser Nationalpark beherbergt viele seltene Spezies wie Opossum, Kapuzineraeffchen, Echsen, Tukane und Unmengen von Schmetterlingen, wir haben das Glueck, einige der Genannten  beobachten zu koennen.

 

Auf brasilianischer Seite suchen wir uns einen netten Campingplatz in der Stadt, fahren zum nahegelegenen Itaipu-Staudamm, dessen Kraftwerk an Groesse und Wirtschaftsnutzen weltweit bislang unangefochten ist, so wird es uns auf kostenloser Propagandabusfahrt souffliert. Zu fuenfundzwanzig Prozent versorgt er Brasilien mit Strom, zu achtzig Prozent Paraguay. Dass laut Expertenmeinung der Damm in etwa zwanzig Jahren versandet sein soll, wird natuerlich verschwiegen. Man hat hier die Moeglichkeit, Alkohol, durch Zuckerrohr gewonnen, neben herkoemmlichen Sprit zu tanken. Der Wirkungsgrad soll allerdings etwas schlechter als der von Benzin sein, Tankstellen dazu finden sich eher im bevoelkerungsreichen Suedosten des Landes. Nach fuenf Tagen Troedelei rollen wir weiter, nach weiteren zehn Tagen trennen sich unsere Wege wieder, da Jockel erst noch nach Asuncion zurueck muss, ich in Richtung Pantanal weiter will. Doch verabschieden wir uns im Aerger ueber das unterschiedliche Reisetempo und es wird einige Zeit brauchen, bis man wieder gut miteinander ist.

 

Die erste Zeit habe ich so meine Verstaendigungsprobleme mit dem Portugisisch, ich schweige mich eher aus, bis ich nach einer Weile wieder ein paar Frasen zu imitieren gelernt habe, denn so lernt man ja am schnellsten eine neue Sprache, indem man den Leuten auf den Mund schaut. Das bisschen Brasilien, was ich hier erlebe, ist nun ganz anders, als die allgemeine Vorstellung von Karneval und Bikinistraenden. Ich fahre durch langweiliges Agrarland, entlang der Grenze zu Paraguay, Kontrollposten winken mich oft herrisch heran, von denen manche sich gleich mit zwei Revolver im Hueftgurt schmuecken. Als Mittel gegen ihre Langeweile muss ich dann erst meine paar Herkunftsverse aufsagen, bis ich weiterdarf.

 

Viel Soja wird hier angebaut, die Erntehelfer kommen aus dem Grossraum Sao Paulo, wohnen oft das ganze Jahr ueber in den Elendsbehausungen aus Holzplanken oder Plastikplanen, die sich entlang einiger Strassen ziehen. Der Mittelstand faehrt viel "Opel" und "VW", davon man mehr als in Deutschland sieht, der "Passat" heisst hier "Parat, der "Golf" hier "Gol", uebersetzt "Tor", am Wochenende hoert man dann die Kommentatoren der Fussballspiele euphorisch bei jedem Torschuss ein etwa zehnsekuendiges "Gooooool" bruellen, so wie ueberall in Latainamerika. Fussball ist schon eine ernsthafte Sache. Einige Doppelstaedte gibt es hier zwischen den beiden Laendern, in denen man ohne extra ein- und auszustempeln umhergehen kann, ganz ohne Polizei. So bleibe ich drei verregnete Tage im billigeren Paraguay , an anderen Orten werde ich ebenfalls noch durch Stromregen festgehalten, komme nur langsam voran.

 

Die riesigen Weideplaetze der Fazendas sind wieder unvergattert und ich habe endlich wieder ein paar ruhige Naechte, bei Kerzenlicht lese und schreibe ich noch ein bischen, mixe mir meinen Caipirinha, dem nur das Eis fehlt und bedenke hier unterm Sternenzelt, wie gut es mir doch eigentlich geht. Das ist nun wieder Heimat von immerzu scheltenden Gruenpapageien. Auch ein paar grosse Paerchen dieser "Unzertrennlichen" in gruen und blau machen manchmal kraechzend auf sich aufmerksam. Tukane sehe ich, endlich auch ein Kolibripaerchen, unglaublich behende und schnell schwirren sie gerade ueber meinem Zelt herum. Jabirus, die groesste Storchenart, staken elegant in Tuempeln. Einmal zelte ich an einem Teich voller Krokodile, Zwei-Meter-Brocken, die paar Siedler an diesem sonst mueckenverseuchtem Platz, waschen nur ein paar Meter abseits ihre Waesche, Augenpaare blinzeln ueber der Wasseroberflaeche. Spaeter ruft die gemuetliche Mama der einen Huette sogar noch ein Krokodil beim Namen, bis es tatsaechlich ans Ufer kommt. Wie es mir die Jungs vormachen, streichle ich dann auch noch eins an seiner Schwanzflosse.

 

Am naechsten Tag verlasse ich auf Gutheissen eines Polizisten die Asphaltstrasse, biege in den tieferen Pantanal-Nationalpark ein. Diesen Tag komme ich noch ganz gut fuenfundfuenfzig Kilometer dort voran, an einem Kiosk an einer Wegkreuzung kann ich mein Zelt unterm Vordach aufstellen. In der Nacht gewittert es schwer und der folgende Morgen zeigt die Piste voellig verschlammt, Die Frau dort sagt noch aufgeregt, der Weg sei unpassierbar, aber da es "nur" neunzehn Kilometer bis zum Rio Paraguay waeren, von wo dann eine Faehre ans andere Ufer setzt, entschliesse ich mich dann doch noch, aufzubrechen. Aber so ein paar Kilometer koennen sich hinziehen, bald schon muss ich durch die schlammigsten Passagen schieben, was mehr Kraft braucht, als im ersten Gang zu treten,. Bis zum Knoechel stake ich so in dem Schlammassel, meine schwere Fuhre zerrend. Zwei Endurofahrer treffe ich, die beide hier schon stuerzten, nein, sowas haetten sie noch nicht erlebt. Bald darauf zerreisst mir mit lautem Knall mein Schlauch vom Hinterrad, ich bleibe ruhig, befreie mit Tuch Felge und Reifen vom Schlamm, flicke den Schlauch, naehe den Mantel, waehrend mich unzaehlige Muecken pisaken. Nach etwa eineinhalb Stunden bin ich soweit, fertig, rolle weiter, bis etwa zwei Kilometer weiter wieder der Reifen knallt. Dabei ueberdenke ich einen Moment, wie es jetzt waere, auszuflippen, aber das bringt mich ja auch nicht weiter und so putze ich erneut den Schlamm herunter und wieder ziehe ich schwitzend Mueckenschwaerme an, die sich ueber mein Spray nur kaputtlachen. Diesmal hole ich aber den Faltreifen aus dem Gepaeck, dass spaeter nur noch mal die Kette reisst, die voellig steif vor Schlamm ist.

 

Siebeneinhalb Stunden brauche ich fuer diese ebene Strecke, auf der Faehre sind dann noch ein paar reiche Schnoesel mit ihren blitzblanken Gelaendewagen, die sich nicht weitertrauten, Bier aus dem Cooler trinkend, die haben kein Wort fuer mich verdreckten, hungrigen Wanderer, geschweige denn etwas Gerstensaft, einen Frau vom Dorf schenkt mir ein Laecheln und einen Bonbon, ganz dankbar bin ich ihr dafuer. Der Weg auf der anderen Seite am naechsten Tag ist um einiges besser, steinig zwar, aber schlammfrei, bis ich nach fuenfzig Kilometern wieder auf der Hauptstrasse bin. Klar war's spannend, aber voellig umsonst, habe ich doch nicht mehr Tiere gesehen, als von der Asphaltstrasse aus. Von nun an will ich nur noch Frauen nach dem Weg fragen, die sind einfach ueberlegter in ihren Antworten, schicken einen nicht auf sprichwoertliche Abwege, wie dieser bekloppte Polizist. Die meisten Typen hier wollen sich keine Bloesse geben, sind Alleskoenner, Alleswisser, ueberschaetzen sich oft masslos in ihren Antworten. Haeufigstes Beispiel sind immer die Zeiten, die sie benoetigen wuerden, um auf einem tollen Rad wie meinen von A nach B zu gelangen. Dafuer blamiere ich sie dann immer gerne vor den Zuhoerern, denn beim Radfahren macht mir mittlerweile keiner so schnell mehr was vor. Oft genug hoere ich, ob ich mein Rad nicht eintauschen wuerde, "Nicht mal gegen seine Frau.", sage ich dann immer herausfordernd, weil mir diese bloeden Sprueche laengst ueber sind, hundertmal gehoert.

 

In Corumbá, dem brasilanischen Grenzort zu Bolivien spiele ich dann nochmal Sisyphus, indem ich mich ein letztes Mal an meinem geplatzten Reifen probiere, ihn auf beiden Seiten rundherum naehe. Dann fahre ich vollbepackt zur Immigration am Zugbahnhof, die halten aber gerade streng ihre dreistuendige Mittagspause ein, so rolle ich zurueck zum Hotel und im langen Korridor knallt mir der Reifen dann zu letzten Mal, welch Zeichen! Ich schneide den Drahtguertel raus, beim Schuster schleife ich am Elektrobock die Noppen der Maentel runter und beweise denen dort, dass so ein "Gringo" sich nicht unbedingt vor Arbeit und Dreck scheut. Diese lege ich dann unter die neuen Reifen, um der Karkasse mehr Steifigkeit zu geben. Beim zweiten Anlauf schaffe ich es dann auch ueber die Grenze.

 

Endlich bin ich also in Bolivien werde im ersten Dorf am Abend neugierig empfangen. Die kleine drollige Schwester der Brotverkaeuferin dort ist mir noch im Gedaechtnis, wie sie auf meine Frage, wo ich schlafen koennte, voellig selbstverstaendlich , in Richtung zeigend "Dort habe ich mein Haus.", sagt, wie "Schlaf doch dort.", dass ich loslachen muss, ueber diese Vertauensseeligkeit. Es kommen noch zwei Leute, die mich einladen wollen, aber ich bin bereits am Zeltaufbauen, und in meinem Falthaeuschen finde ich doch am ehesten Ruhe und Privatsphaere, als noch mehrmals meine Radgeschichte vorbeten zu muessen. Habe ja schon eine beunruhigende Ahnung, dass diese sechshundert Kilometer durch den Chaco im schlechten Zustand sind, fuehrt doch mehr oder weniger neben der Strasse eine Eisenbahnlinie entlang. In fuenf langen Tagen schaffe ich knapp die Haelfte, mal ist der Weg von Steinen besaet, mal versandet, oft frage ich mich, warum ich mir das alles antue, mir faellt nichts ein, als dass man doch nicht aufgeben soll. Irgendwie habe ich mir den Magen verdorben, schade ums Essen, was keinen Halt in mir findet.

 

Im Camp der Arbeiter, die hier in der Naehe am Gasodukt arbeiten, kann ich zelten, der Stromgenerator geht erst nachts um elf aus, morgens halb vier springt er schon wieder an, wie zerhaemmert fuehle ich mich und muss doch weiter, als nochmal so eine kurze Nacht zu haben. Ich erbete mir im naechsten Dorf einen Platz in der Ambulanz, einem winzigen Haeuschen mit zwei Krankenbetten - der Doktor kommt dort nur alle zwei Wochen vorbei - und schlafe mich gesund. Per Lautsprecher werden die Leute hier zur Telefonzentrale gerufen, mit dem Anrufer verbunden.

Man schafft sich allerorts Laermquellen, fuer mich sind diese sinnlosen Geraeusche immer eine Zumutung fuer die Ohren. Da rattert der Generator, nur, um sich auf zwei Fernsehkanaelen Seifenopern reinzuziehen oder um eine einzige Gluehbirne scheinen zu lassen, ueberlagerte Geraeuschkulisse aus Radio- und Tonbandmusik ungedaempft ob am Tage oder zur Nacht - ein Verbrechen gegen die verehrte Musik dass mein Herz ausser Rhythmus schlaegt, ebenso ruecksichtslos die lautstarken Unterhaltungen der maennlichen Maenner hier, hahnengleich zu jeder Stunde. Auf Autodaechern plaerren Lautsprecher Reklame und Neuigkeiten heraus, ueber die Haustiere liess ich mich ja schon aus, bleiben noch die Fahrerzeugfuehrer mich hier staendig anhupen, alles Sachen die ich einfach nicht verstehen will, dass man schon anfaengt sich vor die Stirn zu schlagen, um die ueberschuessigen Hirnzellen zu beseitigen, des Friedens Willen. Keine Ahnung warum dieses Geraeuschkulisse nur mich zu stoeren scheint, aber der Gleichberechtigung ist das  nicht zutraeglich, hier laesst man sich unterbuttern und dort teilt man dafuer wieder aus.

 

Am fuenften Tag muss ich durch vier knietiefe Fluesse, dann setzt der Regen wieder ein, diesmal staerker, im ersten Gang schneiden sich die Raeder durch den Sand, der beim Bremsen wie Schleifpapier auf die Felgen wirkt, die Kette knirscht und verhakt sich nur noch, nein, Schluss jetzt, ich verspreche meinem stummen, duldsamen Kameraden, im naechsten Ort den Zug zu nehmen, gegen diese Materialschlacht. Dieser faehrt wieder durch die Nacht, zwischen Ballen und Kisten voll brasilianischer Gueter sitzend, mache ich kein Auge zu, waehrend der Zug auf den ausgefahrenen Gleisen bedrohlich schlingert - bei Tempo dreissig. Im Morgengrauen sehe ich, es war die richtige Entscheidung, umzusteigen, der Regen haelt an, nicht ein Lastwagen faehrt, die warten alle, bis die Piste, die gerade halb unter Wasser steht, abgetrocknet ist. Ein paar Pick-Ups stehen quer, nur ein Moped kaempft sich mit Wasserfontaene vorwaerts. Aber es bleibt dabei: Nur aeusserst ungern verlade ich das Fahrrad auf andere Transportmittel, denn immer geht irgendwas kaputt, man gibt nicht acht auf andere Leute Gegenstaende. So wird mir im indischen Chaos am Halteort, dem der Bahnhof wie die Rampe fehlt, das bepackte Rad durch die halbgeoeffnete Tuer des Frachtwaggons runtergereicht, "Da, nimm schon.". Wie ruecksichtslos man hier ist, bemerke ich das erste Mal und schreie die Typen wild an. Meine Schnapsflasche haben sie sich auch noch vom Flaschenhalter gezogen, stelle ich spaeter fest.

 

Eigentlich wollte ich ja schon einen Ort vorher raus, nur kam ich nicht zum Aussteigen, weil alles ameisengleich durch die Gaenge wimmelte. Ueber die Holzbohlen einer zwei Kilometer langen Eisenbahnbruecke schiebe ich mein Rad, fahre zurueck nach Pailon, der Ort hat mein Interesse, weil es hier im Umland viele Kolonien von Mennoniten gibt. Im ganzen Land sind es 40000, ihr Stammvater war ein niederlaendischer Prediger namens Menno Simon, der vor 500 Jahren diese Gemeinschaft ins Leben rief, die sich auf bibeltreues, strenges, sittliches Bauerleben verpflichtete. Auch Neuerungen der Technik wurden als Teufelswerk verworfen, weshalb man sich in abgelegene laendliche Gebiete zurueckzog. Bis heute vermischt man sich nicht mit Einheimischen, ist bedacht unter sich zu bleiben, blond, hellaeugig, weisshaeutig. Seit etwa zehn Jahren gibt es nun eine Spaltung unter ihnen, marktwirtschaftlich bedingt, bearbeitet jetzt ein Teil seine Felder mit Maschinen, klemmt sich das Handy in den Hosengurt, faehrt auch in der Freizeit Auto, besucht Kneipen, geniesst die Vorzuege der Zivilisation, waehrend der andere, der kleinere Teil weiterhin zurueckgezogen mit Ackergaeulen und Fuhrwerken hantiert. Die Tracht stammt allerdings noch aus dem vorigen Jahrhundert, die Maenner mit breiten Strohhueten in hellen Leinensachen, die Frauen und Maedchen entzueckend schamhaft, gesenkten Hauptes unter ihren Hueten mit Schaerpe. Immer laufen sie ein Stueck hinter dem Mann, im Leinenkleid, die Fuesse in schwarzen Schnallenschuhen, die Waden brav mit dunklen Socken bedeckt. Die "moderneren" Maenner tragen aber auch Cowboyhuete aus Stroh und Jeans-Latzhosen zum Stadtbesuch, wahrscheinlich, da die meisten hier kanadischer Abstammung sind, unter sich sprechen sie perfektes Plattdeutsch, wie es nur noch wenige Friesen beherrschen.

 

Dann bin ich endlich in Santa Cruz, fahre im dichten chaotischen Verkehr ins Zentrum der Stadt, die sich in Ringstrassen netzfoermig aufbaut. Die Fussgaenger warten devot am Strassenrand, bis sich eine Luecke im Autotross bildet, dann erst ueberqueren sie die Fahrbahn. Der Autofahrer ist so daran gewoehnt, dass er kaum seine Geschwindigkeit verringert und schon gar nicht anhaelt fuers einfache Fussvolk, auch ein Umstand an den ich mich einfach nicht gewoehnen kann.

 

Zur Feier meiner Ankunft will ich mir eine Flasche Wein kaufen und frage in einem Supermarkt ein huebsche Menschin nach den bolivianischen Rotweinen. Seit diesem Tag verlaeuft meine Weiterreise sehr schleppend. Zwar fahre ich immer wieder ein Stueckchen weiter, aber bald sitze ich, das Rad zuruecklassend, wieder im Bus zurueck.

 

Der Weg durch die Andentaeler ist wie erwartet steinig, staubig, steil. Hinter ein paar Bergzuegen verlasse ich das schwuele Flachland, fahre durch die Trockenheit lichter Kakteenwaelder. Fuer das schlechteste Stueck von hunderfuenf Kilometern brauche ich fuenf Tage, es ist also Wandertempo angesagt. Interessanterweise gewoehnt man sich mit besorgtem Blick auf das schwerbebackte Rad auch an diese Langsamkeit. Nach der Haelfte der Strecke bricht mir dann auch noch ein Anloetteil vom Rahmen weg, worauf der Gepaecktraeger sitzt. Das schmerzt mich wie dem Rad, dem ich nach fuenf Jahren laengst Leben eingehaucht habe. Ist es Materialermuedung, nach knapp 60000 Kilometern oder ist es einfach mal wieder " die uebelste Piste seit jeher"? Zwei Doerfer und fuenundzwanzig Kilometer weiter finde ich dann einen geschickten jungen Mann, der mir diese Gewindeoese mit Bronze wieder anloetet.

 

Laengst bin ich im traditionellen Indioland, deren Bewohner sechzig Prozent der Acht-Millionen-Bevoelkerung Boliviens ausmachen, dass dreimal groesser als Deutschland ist. Immer noch ist mir schleierhaft, wie sie in dieser Halbwueste seit Jahrhunderten ihre Felder bestellen, so karg sieht es hier im Winter aus. Als einsamer Radfahrer werde ich in den Doerfern immer herzlich begruesst, mal gibt es ein paar Schalen Chicha, dem gegorenen Maisbier oder mir wird ein Schlafplatz in einem der Adobehaeuser angeboten. Jetzt muss ich ein paar Worte Quechua lernen, um an manch abgelegenen Ort ueberhaupt verstanden zu werden. Die Frauen tragen ihre langen schwarzen Haare in zwei Zoepfen, am Ende mit Baendern verbunden, auf dem Kopf den typischen , unpraktischen Melonenhut, immer ein paar Nummern zu klein, dazu einfarbige Blusen, aufbauschende Faltroecke bis uebers Knie, die ihre duennen Waden eher unvorteilhaft erscheinen lassen, die Fuesse selbst in der kalten Jahreszeit immer strumpflos in Sandalen. Die Babys werden, wie auch in vielen Gegenden Suedostasiens in ein grosses Tuch gebunden  auf dem Ruecken getragen. Die staendige Schaukelei dabei scheint die Kleinen gar nicht zu stoeren, erstaunlich ruhig sind sie, wahrscheinlich durch die staendige Mutternaehe, wie der Mutterwaerme hoert man sie nur selten quaengeln. Die Frauen haben hier das Wortrecht ueber ihre Maenner, tagsueber bilden sich Geschlechtergruppen, da bleiben nur die Nachtstunden, um zusammenzurutschen. Als Schmuck gelten bei ihnen mit Gold- oder Silberdraht eingefasste Schneidezaehne. Dazu dient diese Massnahme auch als  Zahnschutz. Die Preise fuer Fruechte und Gemuese sind saisonbedingt teilweise so niedrig, dass ich manchmal einen roten Kopf bekommen moechte. Aber man mag die Speisen hier sowieso lieber fettig und suess, viele Leute im Land erkranken spaeter an Diabetes, haben keinen Schimmer von gesunder Ernaehrung. Schon am Morgen servieren die Frauen auf den Dorfplaetzen Fleischsuppen und immerzu Huhn, gekocht oder fritiert, dass einem schon glatt Federn wachsen wollen.

 

Die LKW- Fahrer haben saemtlich die Backen voll mit Kokablaettern, gegen Hunger und Muedigkeit. Das ist hier die Volksdroge Nummer Eins, die Indiofrauen verkaufen das Gruenzeug ganz legal auf dem Markt, das eigentliche Kokain, war zumindest frueher ein grosser illegaler Exportschlager, dem die Stadt Santa Cruz ihren Reichtum und den spaeteren wirtschaftlichen Boom zu verdanken hat. 1970 gerade mal zehntausend Einwohner, zaehlt die Stadt heute mehr als eine Million. Bald bekomme ich ein Beutelchen voll Blaetter geschenkt, probiere es nur einmal, kann der Sache nicht viel abgewinnen, viele Indios stopfen sich dagegen gleich nach dem Aufstehen die Backen voll, grinsen mich mit ihren gruenen Zaehnen an, sind eindeutig abhaengig davon, aber dieser Begriff existiert nicht in ihrem Wortschatz. Selbst die Busfahrer setzen sich so kauend und saugend zehn und mehr Stunden hinters Steuer, ihre Menschenfracht durchs Land bewegend.

 

Unterwegs rennen die Kinder manchmal vor mit weg, das passiert bezeichnender Weise oft an Dorfschulen, ich die Lehrer dann frage, was sie ihren Zoeglingen ueberhaupt beibringen wuerden. Aber die Kleineren im Vorschulalter sind in ihrem Spieltrieb zu mir oft umwerfend zutraulich, bereiten mir taegliche Spassportionen. Unvergesslich bleibt auch der Eindruck, als ich beim abendlichen Dorfstopp auf der Busrueckfahrt nach Santa Cruz aus dem Fenster schaue, einige Kinder mich wiedererkennend zu mir rennen, halb schuechtern die Fuesse verdrehend mich beim Namen begruessen und mich fragen, ob ich auch wiederkomme. Kinder zu haben, ist hier ganz selbstverstaendlich, das Land hat mit ueber zwei Prozent eine der hoechsten Wachstumsraten der Welt.  Dadurch, dass sich die Eltern hier, an westlicher Welt gemessen eher etwas weniger um sie kuemmern, entwickeln sie schon frueh erstaunliche Reife, nehmen sich gegenseitig an die Hand und ich bin immerzu beeindruckt, wie klar und offen sie mich befragen, wie kleine Erwachsene, wie wenig sie herumjammern. Wenn ich dabei an Spielplaetze in Deutschland denke, wo auf ein Kind mindestens ein Elternteil kommt, sie mit der Angst der Erwachsenen auf jedem Schritt beobachtet werden, was sie in ihrer freien Entfaltung behindert, so stelle ich fest, die Kiddies hierzulande sind den unseren haeufig um Einiges voraus. Bis spaetestens die Schulzeit anfaengt, sie hier ganz abgesehen vom Lehrstoff allein 500 bis 600 Stunden weniger pro Jahr unterrichtet werden, als in Deutschland, wie mir ein Freund, Berliner und ehemaliger Taxifahrer, nun seid 10 Jahren in Santa Cruz lebend, neben anderem Hoerenswerten erzaehlte.

 

Die Armut ist fuer mich Weissen hier wieder bedrueckender, als in anderen Laendern. Und wieder nehme ich mir vor nicht mehr zu klagen, zu stoenen ueber Unwesentlichkeiten Man hungert zwar nicht, nur in Afrika hungert man, nur in Westafrika traf ich die Kinder mit Wasserbaeuchen, hilflos, laechelnd, schuldlos. Aber viele Leute hier haben auf dem zweiten Blick einen koerperlichen Defekt, aus Mangel an Aerzten und Medizin und wiederum aus Unwissenheit, die Kinder oft vor Schmutz starrend, allerorts schlechte sanitaere Einrichtungen. Auch komme ich wieder durch solche Gegenden wo es scheint, Plastiktueten wuerden hier wachsen, so hat sie der Wind ueber die Felder verteilt, Muellentsorgung gibt es nur in den Staedten, achtlos lassen die meisten ihren Kram auf Schritt und Tritt neben sich fallen, auch die Strassengraeben sind voll davon, Umweltbewusstsein scheint ein luxerioeser Gedanke zu sein, den sich nur die Reichen und Gebildeten leisten koennen. In den Staedten verdient der Durchschnitt etwa sechzig bis achtzig Euro im Monat, davon ein Drittel allein fuer den taeglichen Transport in den unzaehligen Minibussen draufgeht. In den laendlichen Komunen gibt es noch viel weniger Geldfluktuation.

 

Bald habe ich mein Rad auch bis Potosi gebracht, Stunden spaeter bekomme ich ueberraschender Weise schon wieder liebenswerten Besuch. Auf 4070 Metern wurde die hoechste Stadt der Welt in dieser Groesse, von den Spaniern vor 500 Jahren wegen der Silbervorkommen angelegt. Nur noch wenig Erz wird geschuerft, die Minen sind privatisiert worden. Ausschliesslich Indios aus abgelegenen Gebieten arbeiten unter mittelalterlichen Bedingungen noch im Berg, mit Hacke, Hammer, Meissel und Sprengstoff auf der Suche nach einem reichen Floez, in der Hoffnung aufs grosse Geld, um sich schick einzukleiden und vom Fernsehen verblendet, so zu leben, wie die Figuren hinter der Mattscheibe. Fuer mich sind es Gluecksritter, die eine durchschnittliche Lebenserwartung von 35 Jahren dort unter Tage in Kauf nehmen. Nicht genug mit ihrem Elend, trennen sie das Silber oft noch mit Quecksilber, der Rio Pilcomayo, der von hier oben ins Tal fliesst, ist tot, es gibt eine erschreckend hohe Krebssterblichkeit in der Bevoelkerung entlang des Flusses. Einmal mehr zeigt sich die Ruecksichtslosigkeit der Mitmenschen, armer und verarmender Laender, wo jeder aus Selbstsucht zum Verfall beitraegt. Die Minenarbeiter zu besichtigen, ist mittlerweile eine touristische Attraktion, auf solch einer Tour haelt der Gelaendewagen erst noch auf einem Markt, wo man Kokablaetter, Dynamit, Alkohol oder auch Fruechte fuer die Bergleute als Gastgeschenk kauft. Die sind laengst daran gewoehnt, fuehlen sich bestaetigt bei ihrer Arbeit, werden sich deshalb auch weiterhin in den Stumpfsinn kauen, ihr und anderer Leben verkuerzend, anstatt ein zwar armes, aber gesuenderes und helleres Leben eines Landarbeiters zu fuehren.

Mitleid habe ich nur mit Kindern, denen man den Anfang des Weges zeigen sollte, die das Leben erlernen, indem sie Erwachsene in ihren Handlungen imitieren.

 

Wir fahren deshalb gleich auf organisierter Tour zum "Salar de Uyuni", dem groessten Salzsee der Welt. Diese weisse Wueste begruesst uns im schoensten Wetter, unter stahlblauem Himmel, die Sonnenbrille ist ein Muss bei diesem blendenen Licht auf 3660 Metern Hoehe. Jeden Besucher fuehrt man zuerst zur "Isla de Pescado" die nur von Weitem wie ein Fisch aussieht, ihre bizarre Schoenheit durch die riesigen Kakteen hat, von denen einige ueber tausend Jahre lang hier schon herumstehen. Vor allem aber trifft man wieder auf beglueckende Stille, die immer Hand in Hand mit der Weite geht. Am naechsten Tag besuchen wir eine Mumienstaette, die gesamte Familie dort hat die Knie an die Brust gezogen, so hocken sie seit 700 Jahren dort, was auf eine Intoxikation durch giftige Gase des nahen Vulkans zurueckzufuehren sein koennte. Dann wandern wir noch auf etwa 4800 Meter zu einem Aussichtspunkt dieses Berges, Lamas grasen friedlich zwischen kilomterlangen Steinmauern, deren Aufbau Generationen gebraucht haben muss. Zurueck in Uyuni feiert der Ort am Abend sein Gruendungsjubileum, bei minus fuenfzehn Grad auf dem Zentralplatz merken wir den Alkohol erst am naechsten Morgen. Auf der halben Busfahrt ist uns durch das staendige Schlingern entlang tiefer Schluchten schlecht bis zum Ergeben, dann geht's aber wieder steil aufwaerts. Der Bus hat noch eine Panne, da sich die vierte von ehemals sieben Muttern vom Zwillingsrad der Hinterachse loeste, die Achse zu schlagen anfaengt. Beim Aussteigen zeige ich dem Fahrer noch, wie sich eine Mutter am Vorderrad mit der Hand drehen laesst. Das Ersatzteil loest man nach laengeren Versuchen vom Hinterrad eines entgegenkommenden Busses der gleichen Gesellschaft. Solch eine Mutter kostet etwa dreissig Eurocent. Nach drei Stunden duerfen wir dann weiter, ganz selbstverstaendlich hoeren die sechsunddreissig zahlenden Fahrgaeste keinerlei Entschuldigung vom Fahrerteam und ihrer Unverfrorenheit, anderer Leben durch solche Nachlaessigkeiten zu gefaehrden.

 

Zurueck in Potosi trennen wir uns wieder und ich fahre nun nicht nochmal mit dem Rad zum Salar, obwohl dies ja zum Hochlicht eines Suedamerikaradlers gehoert, nehme die Asphaltstrasse nach La Paz, und wenigstens ist es steil und kalt, bis ich auf der Hochebene zwischen 3800 und 4100 Metern gegen den Wind fahre, einmal noch schoen eingeregnet werde. Vor ein paar Jahren entdeckten sie groessere Erdgasvorkommen im Land, aber wie immer ist man uneins darueber, es gegen Devisen auszufuehren, um hier Industrie aufzubauen, oder eben alles einzubehalten. Die Mehrheit der Indios ist fuer das Letztere, sie stellen sich vor, gar nichts dafuer zu bezahlen, weil es ja schliesslich ihr eigener Rohstoff sei. Seit Wochen blockieren sie staendig irgendwelche Hauptrouten, im Fernsehen sieht man dann vor Ort aufgebrachte Maenner, wie immer mit prallgefuellten Backen voller Kokablaetter in die Kamera hineinschimpfen gegen jegliche Ausfuhr, dabei braucht das Land dringend Geld, die wenigsten zahlen hier Steuern. Aber die an moderner Bildung uninteressierten Indios sind einfach gegen alles, was der neue Praesident Carlos Mesa, vertrauenserweckend durch seine ehemalige Taetigkeit als Journalist, vorschlaegt und haben dabei keine Alternativen vorzuweisen. Es wurde ein Referendum bestimmt, was fuenf Fragen um die Zukunft des Gases enthaelt. Am Wahltag habe ich autofreie Strasse, weil alle abstimmen sollen, ist der Verkehr unterbunden. Ganz froh bin ich, dass immerhin 65 Prozent abstimmten, vier Anfragen befuerwortet wurden. Es ist ein langer Weg fuer Bolivien, aber wie es auch fuer andere Laender gilt, trifft die Regierung an den jeweiligen Misstaenden nie die ganze Schuld, ein Umdenken, muss immer zuerst in den Koepfen der Einzelnen stattfinden - gegen die Bevormundung - das geht aber nur im Bewusstsein einer Nation. Dieses fehlt nicht nur Bolivien.

 

Nach sieben Radtagen schaue ich dann in das eindrucksvolle Tal der Hauptstadt La Paz, vierhundert Meter tiefer als das Altiplano liegt es vor den kalten Winden geschuetzt auf etwa 3700 Metern. Dann freue ich mich, Joachim nach unserem letzten misslichen Abschied wiederzusehen, er hat durch den Schweizer Christian ein billiges Hotel gefunden, indem wir drei die einzigen Gaeste sind. Vom fuenften Stock schaue ich hier auf die Marineschule des Landes, wie man dem Nachwuchs dort das Gehorchen durch verschiedene Uebungen beibringt, morgens falle ich um acht zur Fahnenhissung aus dem Bett, werde mit Pauken und Trompeten geweckt, wenn das Orchester die Hymne spielt, begleitet vom brummelnden Soldatenchor. Zur anderen Seite des Gebaeudes blickt man auf die Hochhaeuser von "downtown", links im Hintergrund gruesst der schneebedeckte "Illimani" mit seinen 6439 Metern. Hier bremst man auch wieder fuer Passanten, auch wird man nicht immer unmoeglich durch andere Wichtigtuer beim Befragen des Verkaeufers unterbrochen. Dabei erinnere ich mich an eine Situation in Sucre, wie mir so ein kleiner Fettkloss im Laden wieder ins Wort faellt, ich fahre ihn an, was das soll, er blaeht sich luftschnappend auf und meint empoert, er sei ja Anwalt. Ein anderer dort antwortet mir einmal frech, das sei schliesslich sein Land, darauf sag ich ihm, Leute wie er haetten Schuld daran, dass hier so wenig funktioniert. Es sind ausschliesslich Typen in ihrem Machowahn, mit denen ich eine zeitlang taeglich anecke. Augenfunkelnd versichere ich ihnen immer, ich sei der groessere Macho, denn darauf beruht ihr dummes Spiel, sich immer vor anderen beweisen zu wollen.

 

Die vielen Stufen und steilen Strassen von La Paz, bringen mich die erste Zeit haeufig ausser Atem. An den Maerkten entlang der Strassen hocken die Indiofrauen, nun Aymara sprechend, vor ihren Bergen aus Gemuese und Obst, an manchen Ecken verkaufen sie skurile Sachen wie getrocknete Lamafoeten, Kraeuter, spezielle Weine und Kerzengedecke als Opfergaben fuer "Pachamama", der Mutter Erde. An Festtagen tanzen Maedels - und natuerlich auch junge Maenner - in goldbestickten Kostuemen, vom Blasorchester begleitet bis zur Erschoepfung durch die Strassen, ihr Laecheln - eine Augenweide! Bei allen Misstaenden hier erhalten sie sich den Frohsinn, die Lebensfreude, eine emotional Gabe! Selbst ein alter Bettler, die hier ueberall zum Strassenbild gehoeren, laechelt mich an seiner Ecke bei meinem taeglichen Rundgang immer aus Kinderaugen an. Am dritten Abend verabschiede ich mich mal wieder von Joachim, auf dass man sich immer wieder gesund wiedersehen moege, die eher seltene Idee einer globalen Runde verbindet uns mehr als mit anderen Reisenden.

 

Dann fahre ich nochmal in siebzehn Stunden im Nachtbus zu Delia zurueck, nach einer Woche bin ich wieder in La Paz, bevor ich spaeter erneut den Weg nach Santa Cruz nehme. Ganz raus aus dem alten Rhythmus haben wir uns beide gebracht, mit ihr bin ich nicht nur in eine Familie integriert worden, sondern habe ein Land mal viel genauer kennen gelernt. Doch meine Rad wartet still, und ich habe seit ein paar Jahren dieses starke Gefuehl, angefangene Dinge auch zu Ende bringen zu wollen.

 

Bei allem Leid neben der hingenommenen Freude bin ich aber sehr dankbar, wie das Herz, die Nieren oder welchem Organ man auch immer Extrafunktionen nachsagt, doch immer voller werden von Eindruecken und Lernprozessen. Sie zeigt mir, zu lieben, ist gar nicht schwer, ist eine zu endeckende Gabe! Wie anders ist diese Welt hier doch, emotionaler, irrationaler, gerade in diesen Dingen unkompliziert. Warum sich die Maedels in unseren Breiten so schwer damit tun, “Ich liebe Dich.”zu sagen, ich kann es nicht verstehen, dabei ist es an der weiblichen Seite, diese auszudruecken, erleichternd fuer den einen, wie entwaffnend fuer den anderen. Aber leider sind die Rollen oft schon gaenzlich vertauscht in unserer so selbstgelobten Welt, dass keiner so recht mehr was mit seinen Gefuehlen anzufangen weiss.

 

Nun bin ich zurueck in La Paz und stelle fest, das war mein schwerster Aufbruch, seit ich von zu Hause losfuhr. Will mich jetzt stark machen fuer meine Weiterfahrt, mich wieder konzentrieren.

Wenn alles Schoene rund ist, dann kommt auch alles wieder und im Abschied wartet schon das Wiedersehen.

 

Lieber Leser sei bedankt, bis spaeter, Matthias.

 


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